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Regeln des Tanzes: Roman (German Edition)

Regeln des Tanzes: Roman (German Edition)

Titel: Regeln des Tanzes: Roman (German Edition)
Autoren: Thomas Stangl
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plötzliche Leichtigkeit, das Auseinanderfallen dieses Körpers, den du nicht beherrschst; dies ist die Freiheit, mehr gibt es nicht. Sie spürt es ganz deutlich, diesen ausgedehnten Moment lang, in dem alles möglich, sie nicht mehr sie selbst ist.
    Sie hüllt sich in ein Hemd, dann ist kein Mensch mehr auf der Bühne zu sehen, stattdessen Stoff, der seine stofflichen Eigenschaften verliert, Haar, das unter dem Stoff verschwindet, eine Lichtfläche auf dem Boden (wenn es noch einen Boden gibt); eine Lichtfläche, die beginnen kann zu zittern. Dieses Bild bleibt minutenlang da, niemand darf husten oder sich rühren, dann ist es, als würde der Scheinwerfer (das Licht) an Kraft verlieren.
    Es gibt Applaus, der bald versiegt, als sie, statt sich zu verbeugen, von der Bühne huscht. Einige verirrte Minuten lang, während sie sich in der Garderobe einschließt, jemand ihr auf die Schulter klopfen, jemand ihr zunicken, jemand sie umarmen will, glaubt sie noch, alle müssten mitbekommen haben, was geschehen ist; alle müssten verwandelt sein und ihre Schwestern und Brüder geworden. Sie wird merken, ihr Körper, wie ihre Sätze, verdecken nur, was sie meint. Sie wird merken, es fällt keinem etwas auf, sie spielt, und es ist nur Kunst, sie lebt, und es ist nur Leben. Alles gehört zum Genre, in dem sie sich bewegt; jeder ihrer Körperteile, das Zittern, das Schreien, das Gesicht, das kein Gesicht ist, das Licht, die Freiheit (sie ist keine Freiheit, sondern ein Bild der Freiheit).
    Sie macht weiter, auch noch als sie den Eindruck hat, sie ist, sobald sie wirklich aufgetreten ist, den Leuten, die sich an ihre imaginären Auftritte erinnerten, langweilig geworden; was sollte sie auch tun als weitermachen. Es gibt lichtdurchflutete Bühnen, es gibt dunkle Keller in alten Gebäuden, die zu hübschen Auftrittsorten ausgebaut sind, dann und wann bekommt sie eine Einladung. Die Keller sind ihr zu wenig Keller. Sie müsste andere Orte erfinden, in richtigen Kellern tanzen, zwischen Gerümpel, an dem sie anstößt und über das sie stolpert, im muffigen Geruch, im schwachen Licht. In Kellern, die wie Wälder sind, von Generationen toter Menschen errichtete Höhlen unter Gebäuden, die zu Wäldern geworden sind. Zu Musik wie Tierschreien tanzen, ganz allein, erfüllt von der Schande allein zu sein, tanzen, ohne sich zu bewegen, das Wort Tanz , das nur lächerlich ist und das sie hasst, auslöschen, im Tanz erstarren und erfrieren.
    Manchmal versteht sie auch, dass alles für nichts ist; sie kennt die Grenzen ihrer Methode, manchmal scheint ihr, sie wäre eine Scharlatanin, gerade weil es ihr ernster ist als allen Professionellen. Warum sollte es denn jemand sehen, dieses zweite, diesen anderen Körper, der sichtbarer ist als der sichtbare. Warum sollte jemand sehen, dass sie die Zeit tanzt, die Abwesenheit, nein, nicht tanzt, darstellt; dass es nichts anderes gibt.
    Einmal bekommt sie einen merkwürdigen Brief auf ihren Laptop weitergeleitet. Sie lässt ihn ein paar Tage lang unbeantwortet. Sie erinnert sich an einen älteren Mann, der ihr bei ihrem letzten Auftritt im Publikum aufgefallen ist, kein Zeitungskritiker (auch wenn sie das von seinem Aussehen her hätte denken können), kein Abgesandter irgendeines Festivals, von dem sie noch nie gehört hat, nur ein Zuschauer, oder nicht einmal ein wirklicher Zuschauer, sondern jemand, der sozusagen heimlich hier ist und der nicht verstecken kann, dass es ihm peinlich ist, hier zu sein, sie hat ihn noch nie gesehen in dieser Welt, in der sie sich nun bewegt, als wäre sie darin daheim, und er fällt ihr vielleicht auch nur auf, weil er wie eine Leerstelle im Bild erscheint, dieser schöne, aber derangierte Mann, von dem jeder befürchten muss, im nächsten Moment könnte überhaupt nichts mehr von ihm (seiner puren Fassade) übriggeblieben sein.
    Das Telefon klingelt, er läuft zum Apparat, niemand ist dran. Ein langgezogenes elektronisches Tuten kommt aus dem Hörer, kein blinkendes Licht, keine Nachricht, keine gespeicherte Nummer oder Anrufzeit erscheinen auf dem Display. Graues Morgenlicht liegt im Zimmer, seine nackten Füße stehen aus den Hosenbeinen des Pyjamas hervor. Er versucht sich zu erinnern, wo er gerade eben gewesen ist. Er hat im Traum das Telefon läuten hören, so, denkt er jetzt, muss es gewesen sein, und steht als wirklicher Mensch um sechs oder sieben Uhr früh mit dem Telefonhörer in der Hand am Schreibtisch, zumindest findet er keine Methode, mit der er sich
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