Regeln des Tanzes: Roman (German Edition)
davon überzeugen könnte, er würde doch noch schlafen. Von den Balkonpflanzen her hört er ein Rascheln, dort ist es noch dunkel, von dort beobachtet ihn ein Auge, dort beginnt eine unbekannte Landschaft, die Landschaft, an die er sich eben zu erinnern versucht hat.
Er kocht Kaffee, lange steht er vor seinem Kleiderschrank und überlegt, was er anziehen soll. Er steigt ins Auto, voller Erwartung, den Kopf voller Sätze und Erklärungen. An einer Ampel bemerkt er vor einem Fußgängerübergang eine schwarzgelockte Frau, die von einem kleinen unrasierten Typen mit geschlossenen Augen innig umarmt wird. Das Umarmungshafte des Sehens einer Umarmung, denkt er. Die Frau sieht, dass er sie sieht (sieht sie auch, was er denkt?), und schaut ihm mit messerscharfem Blick direkt in die Augen. Er wendet sich schnell ab. Beruhigt es ihn, dass sie viel älter ist, als er auf den ersten Blick geglaubt hat? Beruhigt es ihn, dass der Typ unter der grauen Schicht, die ihn, seine Kleider, sein Gesicht, seine Hände umhüllt, durch eine Umarmung sicher nicht zu retten ist, dass er mit seinem bisschen Körper kaum von der Frau, die er zu umarmen versucht, zu spüren sein kann, weniger als er selbst jetzt im Auto den messerscharfen Blick, den Blick aus ihren sozusagen gespitzten Pupillen gespürt hat?
In der Nachricht, die gestern, mehr als eine Woche nachdem er sein Mail abgeschickt hat, in seinem Posteingang aufgetaucht ist, findet sich keine Entschuldigung für die Verspätung (aber vielleicht hat die Tänzerin auch erst jetzt seine Nachricht bekommen), und sie ist nicht wirklich eine Antwort auf das, was er geschrieben hat, sie fragt ihn nicht, was für ein Spiel er spielt oder zu spielen behauptet, schreibt nichts von Geheimnissen, Dunkel oder Kindheit; so als hätte die Frau einfach seine Nachricht benützt, um Ideen zu notieren, die ohnehin in ihrem Kopf präsent und irgendwann zu sagen waren; eine Spur neben allem Erwartbaren und eben deshalb viel mehr als er sich erwarten hatte können. Sätze über das Tanzen, über Gesichter, über das Licht. Sie schreibt etwas von blitzbeladenen Dingen und von mit Tierischem durchtränkten Gewändern, er fürchtet ein wenig, sie könnte einfach verrückt sein, aber er findet die Formulierung wunderbar, und irgendwie kommt sie ihm auch bekannt vor, vielleicht ist alles, was sie ihm schreibt, nur eine Zusammenstellung von Zitaten. Das Mail ist länger als seines es war, länger als alle persönlich adressierten Mails, die er in den letzten Jahren bekommen hat, er fasst Mut. Am Ende findet sich sogar noch eine Einladung, plötzlich ganz konventionell formuliert (gerne bin ich bereit, Sie in einem Café Ihrer Wahl …) Er könnte diesen Stil für verdächtig halten, möchte das aber nicht.
Er schlägt ein Café in der Innenstadt vor, eigentlich in einer verbotenen Zone, aber gerade das mag ihm notwendig erscheinen; einen Punkt in dieses Feld hinein zu setzen. Und es ist ein Café, in dem er vor vierzig Jahren öfters gewesen ist und das seither (das heißt, bis zum vorigen oder vorvorigen Jahr, als er zuletzt hier hereingeschaut hatte) von den Nichtraucherräumen und einigen Grüppchen von Touristen abgesehen noch nicht wirklich seinen Charakter verändert zu haben scheint. Okay, antwortet die Frau grußlos, aber mit Rufzeichen. Eine halbe Stunde vor dem Termin kommt er am Café an, findet eine Tiefgarage, in der er sein Auto parken kann. Dann sitzt er vor seiner Melange und wirft schnelle Blicke auf alle durch die für Momente eine Art von Käfig formende Doppeltür an der Ecke eintretenden Frauen, beinah eine Stunde lang, so kommt es ihm vor, er versucht, nicht gleich wieder den Mut zu verlieren. Viele sind einfach zu jung, einige eindeutig zu dick oder zu alt oder ganz falsch gekleidet; aber wie soll er wissen, was die richtige Kleidung wäre; wie soll er wissen, wie die Frau im richtigen Leben aussieht, wie sie sich anzieht (wie eine Tänzerin oder gerade ganz und gar nicht wie eine Tänzerin?), welche Frisur sie trägt, kann er überhaupt eine Frau wiedererkennen, wenn sie die Frisur und womöglich die Haarfarbe geändert hat? So echt wie die Frau auf der Bühne ausgesehen hat, so sehr als wirklicher Mensch, so echt, so sehr als wirklicher Mensch darf man im richtigen Leben, draußen auf der Straße, in einem Café doch gar nicht aussehen. Das war womöglich das erste, was du als Kind gelernt hast (was dir deine Schönheit geschenkt und was dich fürs Leben zerstört hat), man darf nicht
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