Regeln des Tanzes: Roman (German Edition)
so aussehen, wie man aussieht. Du wirst lernen, dich zu verkleiden, sagt eine Stimme in seinem Kopf, aber du entkommst ihnen nicht.
Hat er einen Vorteil, weil er schon dasitzt und sie sehen wird, bevor sie ihn sieht? Hat er einen Vorteil, weil er ihr völlig unbekannt ist? Weil sie nicht wissen kann, was er von ihr weiß? Er glaubt es nicht so recht; er kann nicht einmal ganz glauben, dass sie nichts über ihn weiß und nicht weiß, was er über sie wissen muss; wer außer ihr kann die Fotos hinterlegt haben. Und wenn sie sie womöglich gezielt für ihn hinterlegt hat: wer sonst als er hätte auf diese Weise Gebrauch davon gemacht? Durch welche geheimen Kanäle sie auch immer von ihm erfahren haben mag; mehr von ihm erfahren haben mag, als er selbst wusste. Jetzt scheint ihm, er hätte alles aufgegeben, für diese Fotos und wegen dieser Fotos, aber er hat keine Ahnung, warum. Eine Zeitung liegt neben ihm auf der Bank; er tut so, als würde er darin lesen; dann kramt er ein leeres Notizbuch aus seiner Tasche und schreibt das Datum hinein. Was will er dieser möglicherweise verrückten Frau am Ende sagen: Ich suche ein Bild, das Sie bzw. Ihre Schwester bzw. Sie und Ihre Schwester zur Gänze enthält, und möchte in dieses Bild hineingezogen werden und mich nicht mehr von Ihnen unterscheiden müssen? In der Wirklichkeit – das kann er, hier im Café, unter wirklichen Menschen, nicht vergessen – sind nicht nur solche Sätze unsagbar, nicht einmal die Phantasie ist möglich, so verrückt kann die Frau gar nicht sein, dass solche Sätze sagbar würden. Immer wieder schaut er auf die Uhr, sie verspätet sich, vielleicht hat er sie doch übersehen und sie ihn, und sie sitzt nun ganz woanders im Café und schätzt die eintretenden Männer ab, wahrscheinlich aber kommt sie gar nicht. Das Gefühl nagt an seinem Magen, während er seine immer nervöseren Blicke auf die Frauen an der Eingangstür oder im Käfig zwischen den Eingangstüren wirft, die ihn kaum wahrnehmen und an ihm vorbei zu irgendeinem freien Tisch oder zu irgendjemandem, mit dem sie verabredet sind, laufen, die Frau, auf die er wartet, wird ihn versetzen; beinahe beginnt er schon darauf zu hoffen, so wie er als sehr junger Mann immer auch ein wenig gehofft hatte, das Mädchen, mit dem er verabredet war, würde ihn versetzen, und so wie er in den letzten Jahren beinahe darauf zu hoffen begonnen hatte, dass Pre ihn verlassen würde.
Dann erkennt er die Frau sofort, auch wenn sie auf den ersten Blick ebenfalls viel zu jung aussieht. Und auch wenn er sie nicht im geringsten von ihrer Schwester unterscheiden kann, warum denn nur schien ihm diese Unterscheidung wesentlich.
Hat sie schon jemals einen erwachsenen Mann gesehen, der so verloren wirkt, zugleich aber auf provozierende Art behütet? Sie muss an ihren Vater denken, an den sie keinesfalls denken möchte. Der Mann, der ihr gegenübersitzt, ist wirklich der Zuschauer, der ihr vor ein paar Wochen aufgefallen ist. Er versucht Konversation zu machen; sie lässt Komplimente für ihr jugendliches Aussehen über sich ergehen. Sie schaut ihn an, ohne zu lächeln, er redet leise weiter, sein Gesicht ist sehr weiß. Seine Hände zittern ein wenig, wenn er nach seiner Kaffeetasse greift. Ihre Hände zittern nicht, das hier ist nur eine Stunde ihres offiziellen Lebens, also zittern ihre Hände nicht. Sie kann jetzt jeden anschauen und weiß, dass es kaum jemanden gibt, der etwas sieht, vor allem Männer sehen grundsätzlich nichts, sie kann vor allem nicht glauben, dass dieser Mann irgendetwas sieht.
– Was sehen Sie, sagt sie ins Nichts hinein, der Mann schaut verwirrt.
– In Ihnen? fragt er. Hinter Ihnen?
Sie schaut ihm in die Augen, und er hält beinah ihren Blick aus, irgendwann muss er gelernt haben, wie man Blicke aushält, und er hält sich gerade noch an diesem Lernstoff fest, eine Pause im Gespräch entsteht, beinah lächeln sie beide, er kann hoffen, er würde gleich einen Zugang zu ihr gefunden haben. Neben seiner Kaffeetasse liegt ein Notizbuch auf dem Tisch, das er, wie es scheint, gerne aufschlagen würde.
Offenbar zögert er, etwas zu erzählen, und plötzlich erfasst sie ein heftiger Ekel. Du Qualle, denkt sie, was willst du von mir. Warum sagt er nicht, was er weiß und woher, dieser Mann hat sich auf irgendeine Art und Weise in die Geschichte geschlichen, in ihr Leben geschlichen (wenn man das ihr Leben nennen möchte). Doch vielleicht hat sie gerade auf so jemanden gewartet, einen falschen
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