Reibereien
von Anaïs Nin und zertrümmerte Beatrice damit den Schädel, ich schlug mehrmals auf das Tier ein, bis das Gehirn an die Wände spritzte.
Zu jener Zeit hatte ich keine offizielle Lebensgefähr tin. Ich schlief ab und zu mit der Frau von Boris, dem Leiter der Klinik, während sich meine Mutter in immer neue Abenteuer von kurzer Dauer stürzte. Manchmal sprachen wir darüber. Das heißt, wir sprachen nicht direkt darüber, aber es gab Momente, in denen das Schweigen kristallklar war und wir stumme Blicke wechselten, die ganze Bände über unsere Mißerfolge sprachen. Wir verstanden uns eben, sie und ich. Und was das Thema unseres unerfüllten Lebens und unserer elenden Einsamkeit anging, wußten wir nicht recht, ob wir darüber lachen oder weinen sollten.
Aber zur Zeit verbrachten wir viele Stunden gemeinsam in der Buchhandlung, stöberten in all die sen Büchern, a ll diesen Geschichten über Verrück te, verglichen mit denen die unsrige nicht einmal die trübseligste war -und auch nicht die abartigste, ganz im Gegenteil -, und warteten darauf, daß irgendwelche Verrückte kamen, um in diesem schönen Monat Juni, in dem das Blut so schnell trocknete, mit Verschwörermiene Geschichten über Verrückte zu kaufen.
Es waren noch ein paar Blutflecken an den Tischbeinen, obwohl ich den ganzen Tag nach dem schrecklichen Vorfall damit verbracht hatte, den Boden in einem Umkreis von drei Metern sowie den unteren Teil der Wände zu scheuern.
Meine Mutter fand das störend. Sie trug den Arm in einer Schlinge und betrat nie den Bereich, in dem sich der Horror abgespielt hatte. Wenn sie einer Kundin folgte, machte sie an einer bestimm ten Stelle kehrt und ging auf der anderen Seite um die Tische herum.
Ich ließ also einen Mann kommen. Eine Reinigungsfirma, die solche Arbeiten vornahm, schickte mir einen ihrer Techniker, wie sie das nannten, nachdem sie mir den Erfolg ihres Verfahrens garantiert und geschworen hatten, daß sie nicht den gan zen Laden mit Tonnen von Seifenlauge begießen und die Hälfte meines Lagers zerstören würden.
Meine Mutter trug ein Sommerkleid.
Die Spuren ihres Autounfalls waren ver- schwunden, und ich bremste ihren Alkohol- konsum, so daß sie völ lig fit wirkte. lch lud sie auch jeden Mittag zum Essen in ein Restaurant ein, daher die vier oder fünf Pfund, die sie anscheinend zugenommen hatte und über die ich mich freute. Auch wenn sie so tat, als sei sie darüber entsetzt, spürte ich, daß sie mit mir einer Meinung war. Daß sie geschickt auf die strategischen Stellen verteilt waren.
In meinen Augen sah sie noch recht gut aus. Manchmal strichen Kundinnen um sie herum und gingen mit ihr in den hinteren Teil des Ladens, um mit leiser Stimme mit ihr zu sprechen, und wenn ich dann Corinne und Sandra zur Rede stellte, frag ten sie mich, wo denn das Problem liege oder ob ich kurzsichtig sei.
Kurz gesagt, ich ließ einen Mann kommen.
Ich war gerade am Telefon und erzählte den Mädels, daß ihre Béatrice in der Sonne auf dem Bürgersteig ein Nickerchen mache – ich zog es vor, den Moment der Wahrheit noch etwas hinaus- zuzögern –, und meine Mutter war dabei, die Post zu öffnen, als er hereinkam.
Meine Mutter und ich erstarrten, es verschlug uns buchstäblich den Atem.
Sobald sie sich wieder halbwegs gefaßt hatte, kam sie zu mir und zupfte mich am Ärmel.
»Ich weiß, sagte ich, bevor sie den Mund aufmachte. »Ich weiß. Ich gebe zu, daß die Sache ziemlich verwirrend ist.«
Wir verbrachten den Rest des Vormittags damit, den Mann von allen Seiten zu studieren, bis er uns schließlich mißtrauisch ansah.
Ab und zu mußte meine Mutter hinaus- gehen, um ein Glas zu trinken, und ich hatte nicht die Kraft, sie davon abzuhalten.
Auch für mich war es ein Schock. Die Ähnlich keit dieses Mannes mit meinem Vater war so augen fällig, daß ich den Eindruck hatte, wieder ein Kind zu sein, es schnürte mir die Brust zu, und alte Ge fühle kamen in mir hoch. Ich hatte sie schon lan ge tot geglaubt. Nicht, daß ich sie bewußt erstickt hätte. Zumindest glaube ich das nicht. Aber wie dem auch sei, ich war völlig vor den Kopf gestoßen, und wenn keine Kunden da waren, mußte ich mich hinsetzen.
Einerseits war die Überraschung zwar durchaus angenehm, aber zugleich spürte ich Panik aufkommen, einen Sturm, der allerdings noch in der Ferne war und sich möglicherweise abwehren ließ.
Selbstverständlich war er älter als der, den ich gekannt hatte. Ich schätzte ihn auf Mitte Fünfzig. Sein
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