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Reich durch Hartz IV

Reich durch Hartz IV

Titel: Reich durch Hartz IV Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rita Knobel-Ulrich
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über Bildungsmaßnahmen oder die Zumutbarkeit von Arbeit sind oft Ermessensfragen. In solchen Fällen reicht Anwalt Martin Reucher Klage ein und wird dafür honoriert. Egal, wie der Prozess ausgeht, die Rechnung geht für ihn immer auf, denn der Steuerzahler kommt für alle entstandenen Kosten auf.
    Arbeitslose sind somit eine lukrative Zielgruppe für Rechtsanwälte. Martin Reucher ist da ganz offen: »Ich ersticke in Fallzahlen«, räumt er freimütig ein. Er sei, will er damit sagen, bekannt unter den Hartzern. Der Anwalt lehnt sich in seinem Schreibtischsessel zurück und erklärt, wieso er in Fallzahlen ersticke: »Es treten ja Effekte im Laufe der Jahre ein. Also es spricht sich rum, wie man hier behandelt wird und mit welchen Ergebnissen. Und wenn man bedenkt, dass Hartz-IV-Empfänger gerne mal in Problemvierteln zusammenwohnen, dann ist das eine gute Werbung.« Der Anwalt lächelt ein bisschen schief, als wir einwerfen, Hartz-IV-Empfänger zu vertreten, sei so etwas wie eine Lizenz zum Gelddrucken.
    »Nein«, winkt er ab, »auf keinen Fall.« Für jedes Rechtsgebiet gebe es eigene Gebührensätze. »Die Sätze im Sozialrecht«, so fügt er ein wenig bedauernd hinzu, »sind niedriger als in anderen Rechtsgebieten.« Doch bei Reucher macht’s die Masse. Ganze Schränke mit Hängeregistratur sind bis oben hin gefüllt mit Akten von Fällen. Ständig klingelt das Telefon, rattert das Faxgerät, rappelt der Computer, wird der Erhalt von E-Mails bestätigt, kommt die Sekretärin mit der Unterschriftenmappe.
    Für einen Mandanten ist Reucher bis vors Bundesverfassungsgericht gezogen. Dann klingelt die Kasse richtig laut. Auf diesen Fall ist Reucher besonders stolz. »Ich kann davon leben«, räumt er lächelnd ein. »In diesem Fall sind die Gebühren einmal fällig fürs Bundesverfassungsgericht, zweimal auch fürs Bundessozialgericht, dann fürs Landessozialgericht, fürs Sozialgericht und dann noch das Widerspruchsverfahren. Das ist natürlich ein Sahnestückchen«, schließt er strahlend und klappt die Akte energisch zu. Leckerbissen, aus dem Steuersäckel gezahlt. Wir sind schließlich ein Rechtsstaat, und der zahlt natürlich auch dann, wenn ein Bürger gegen den Staat, der ihn alimentiert, zu Felde zieht und klagt.
    Nirgendwo wird so oft gegen Hartz-IV-Bescheide der Jobcenter geklagt wie in Berlin. Allein in Neukölln, so Bezirksbürgermeister Buschkowsky, beziehen 92 000 aller Einwohnerinnen und Einwohner Transferleistungen, also fast jeder Dritte. Was Hartz IV anbelangt, sind es 130 Bedarfsgemeinschaften auf 1000 Einwohner, Rang 1 in Deutschland. Bei den unter 25-Jährigen beträgt dort der Hartz-IV-Anteil 41 Prozent, in ganz Berlin sind es 28 Prozent. Das heißt, in der Hauptstadt lebt fast jeder dritte junge Mensch unter 18 in einem Hartz-IV-Haushalt. Hartz IV ist also für viele junge Leute ein völlig normales Einkommen.
    In Berlin befindet sich auch das bundesweit größte Sozialgericht. 2011 gingen dort in Zusammenhang mit dem Arbeitslosengeld II fast 32 000 Klagen ein. Das waren 5000 Fälle oder rund 20 Prozent mehr als im Vorjahr. In der Bundesrepublik gibt es sechs Millionen Hartz-IV-Bezieher (ALG II und Sozialhilfe). Berlin ist Spitzenreiter im Vergleich der Bundesländer: Fast jeder fünfte Berliner (16,2 Prozent der Bevölkerung) unter 65 Jahren lebt von Hartz IV. Derzeit sind es 441 000 erwachsene Hilfebedürftige sowie 155 000 Kinder und Jugendliche. Das Berliner Sozialgericht bewältigt daher den bundesweit größten Ansturm von Klagen. Seit Einführung von Hartz IV im Jahr 2005 hat sich die Zahl der jährlichen Neueingänge vervierfacht.
    70 Prozent der Klagen betreffen Hartz IV. Meistens geht es um die Kosten für die Unterkunft, sprich die Höhe oder die Übernahme von Mietzahlungen durch die Jobcenter, die Anrechnung von Einkommen, die Verletzung von Bearbeitungsfristen und vieles mehr. Die Bundesagentur für Arbeit verweist gern darauf, dass sie jedes Jahr über 25 Millionen Leistungsbescheide an Hartz-IV-Bezieher verschickt. Vom Gericht aufgehoben oder geändert worden seien davon 2009 nur rund 0,2 Prozent. Somit führen die wenigsten Klagen überhaupt zu einem Gerichtsbeschluss. Bei etwa 40 Prozent wird der Klagegrund oft im Vorfeld von den Jobcentern anerkannt und der jeweilige Bescheid entsprechend abgeändert. Die Rechnung des Rechtsanwalts muss aber auch bei einem Vergleich bezahlt werden.
    Statistiken der Bundesagentur für Arbeit (BA) zufolge wurde in den ersten drei Monaten des

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