Reich und tot
hat.«
Klingt nicht unbedingt überzeugend, fand Kerr selbst. An was dachte er also? Dass womöglich Trayner den Elektroknüppel beiseitegeschafft hatte? Das war absurd. Falls Trayner überhaupt in den Fall Mortimer verwickelt war, dann bestand sein schlimmstes Vergehen wahrscheinlich darin, dass er nicht zugeben wollte, von den Problemen in Mortimers Ehe zu wissen. Kerr wollte schon das Thema wechseln, doch Jacobsons Reaktion überrumpelte ihn.
»Trinken Sie aus, Ian«, sagte er. »Ich denke, wir beeilen uns besser, wenn wir noch nach Boden Hall wollen. Wobei das eigentlich gar nicht zu Ihnen passt: Ihr Dad ist doch derjenige, der überall kapitalistische Verschwörungen wittert, nicht Sie. Aber ich muss zugeben, ich möchte schon gern den Schweiß auf der Stirn dieses reichen Knaben sehen, wenn er begreift, dass er nicht völlig über dem Gesetz steht.«
Kevin Holland hatte fast den ganzen Tag im Bestattungsinstitut verbracht. Chris Parr war etwa eine Stunde bei ihm geblieben und dann zurück nach Longtown gefahren. Holland sollte anrufen, wenn er so weit war, dann wollte Parr kommen und ihn abholen. Die Frau im Büro meinte, Holland könne so lange bleiben, wie er wolle. Es sei rund um die Uhr jemand da.
Der kleine Raum hatte etwas von einer Zelle. Vor dem Milchglasfenster gab es ein Blumenarrangement, der Sarg lag auf einem Tisch, davor stand ein einzelner Stuhl. Der Sargdeckel war geöffnet und lehnte an der Wand, auf dem Namensschild war ihr Name zu lesen: Jennifer Mortimer. Als er sie gerade kennengelernt und sich in sieverliebt hatte, hatte es schon etwas Magisches gehabt, allein diesen Namen auszusprechen:
Jennifer, Jenny, Jen.
Jetzt, hier, war es schrecklich, die beiden so nüchternen Worte vor sich zu sehen. Der erste Schlag war jedoch gewesen, wie klein sie mit einem Mal wirkte. Als hätte der Tod sie schrumpfen lassen. In plötzlicher Panik hatte er nach ihren Füßen gesehen. Hatte man ihr die etwa für irgendein grausiges, unerlaubtes medizinisches Experiment abgeschnitten? Er weinte hemmungslos und sprach dann mit ihr. Weinte und sprach. Er hätte nicht sagen können, wie lange das so ging. Ob er laut oder stumm mit ihr sprach. Immer neu beteuerte er, wie leid es ihm tue. Leid, dass er nicht bei ihr gewesen sei. Dass er es nicht richtig durchdacht, sie nicht mit nach Wiltshire genommen habe, nicht früher zurückgekommen sei. Es tue ihm so leid, dass er sie nicht früher kennengelernt habe. Vor Mortimer. Selbst noch vor Eric Brown. Vor allen anderen. So leid, so leid, so leid.
Sie hatten sie geschminkt, in ein helles Gewand gehüllt und ihr die Hände gefaltet. Das Haar hatten sie nach vorn gekämmt, sodass sie aussah wie eine blonde Version der Frau auf diesem alten viktorianischen Gemälde: ›Ophelia‹. Aber das Gemälde log, es konnte die Gegenwart der lebenden Frau in dem wie tot daliegenden Körper nicht verbergen. Dieser Körper hier jedoch, der war leer, schrecklich leer, ohne alles Leben. Jenny, seine Jenny, war nicht mehr da. Er griff nach den kalten Händen, küsste die kalten Lippen, hatte bis dahin nicht gewusst, nicht ermessen können, wie grausam Kälte sein konnte. Er hatte Rosen mitgebracht. Rote Rosen. Und seinen Khalil Gibran. Die Beerdigung, das öffentliche Ritual, würde nur ein Nachklapp sein. Das hier war jetzt seine Zeremonie.
Als er endlich so weit war, verteilte er die Rosen auf ihrem Körper und las aus dem Buch. Auch jetzt hätte er nicht sagen können, ob die Worte tatsächlich aus seinem Mund kamen ... oder in seinem Kopf gefangen blieben.
Erst wenn ihr aus dem Fluss des Schweigens trinkt, werdet ihr wahrhaft singen.
Erst wenn ihr die Spitze des Berges erreicht, werdet ihr beginnen aufzusteigen.
Erst wenn die Erde nach euren Gliedern verlangt, werdet ihr wahrhaft tanzen.
Der kleine Nutzgarten hinter dem Haupthaus von Boden Hall war durch einen nicht sehr großen, aber tiefen und perfekt blauen Swimmingpool ersetzt worden. Mrs Trayner vollführte gerade einen vollendeten Kopfsprung vom Sprungbrett. Als sie Kerr und Jacobson erblickte, schwamm sie an den Rand des Beckens und griff nach ihrem Bikinioberteil. Mr Trayner lag auf seinem Liegestuhl, hatte einen Krug mit etwas, das wie Sangria aussah, neben sich stehen und einen aufgeschlagenen Roman von Zadie Smith mit dem Umschlag nach oben auf dem Bauch liegen. Das skandinavische Au-pair-Mädchen, das sie durch das Labyrinth des Hauses geführt hatte, kam mit ein paar extra Gläsern.
»Vielen Dank,
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