Reich und tot
rüttelte die Tür auf und starrte sie an. Er hätte alles zwischen vierzig und sechzig sein können. Sein Gesicht lag unter einem ungepflegten schwarzen Bart verborgen. Er sah aus und roch, als sei er es gewohnt, in seinem struppigen dunkelblauen Pullover und der zerrissenen, ausgebeulten Cordhose zu schlafen.
»Ihr schon wieder«, schnarrte er. »Was ist denn nur mit euch los, Leute? Kriegt den Hals nicht voll, wie? Suhlt euch förmlich drin? Äh? Äh?«
Sein Atem stank nach billigem, verschnittenem Whisky, und hinter dem Whisky lauerte noch etwas Schlimmeres: etwas Unverdautes, Gastritisches, das wahrscheinlich mit einem beginnenden Leberschaden zusammenhing.
»Mein Urgroßvater ist 1904 hergekommen. Äh? Äh? Hat eine Straßenbahn gefahren im großen Streik, das hat er. Stand mit achtzig bei der Ernte noch den ganzen Tag auf dem Feld. Äh? Äh?«
Bei ihren früheren Besuchen hatte Chapman gesagt, er wisse nichts über die Mortimers: Er kenne ja nicht mal ihre Namen. Nicht einen einzigen Namen der reichen Dreckskerle ringsum kenne er. Er wisse nur, dass sie genug gesunden Menschenverstand hätten, nicht in eine Bauernfamilie hineingeboren worden zu sein.
Es schien kaum Sinn zu machen, aber Hume fragte ihn trotzdem nach letzter Nacht, Montagabend: Hatte er da etwas Ungewöhnliches gesehen oder gehört? Chapman sah plötzlich den Collie, der sich vorsichtig bis auf ein, zwei Meter an Barber herangeschlichen hatte, und machte einen unsicheren Schritt auf ihn zu, aber der Hund wich nervös zurück und lief bellend zum verschlossenen Tor hinüber.
»Nur euch hab ich gesehen«, murmelte Chapman, hielt sich kurz an Barbers Schulter fest und schlurfte zurück zur Tür.
»Ihr glaubt wohl, ich weiß das nicht. Äh? Äh? Wie, verdammt noch mal, nennt ihr das doch gleich? Überwachung?«
»Überwachung?«, fragte Hume erstaunt.
»Der verdammte Lieferwagen. Letzte Nacht und die Nacht davor. Den verdammten Weg hoch.«
Sie fragten ihn, um wie viel Uhr er den Wagen gesehenhabe und ob er sicher sei. Die stimmigste Antwort, die sie aus ihm herausbekommen konnten, lautete »spät«, aber nicht erst gegen Mitternacht. Letzte Nacht, die Nacht vorher sei es später gewesen. Ob er den Wagen beschreiben könne? »Ein Transit. Äh? Äh? Keiner drin, als ich guckte. Tut doch nicht so, als wüsstet ihr’s nicht. Schnüffelt die ganze Zeit hier rum. Suhlt euch drin.«
Ob er ihnen zeigen könne, wo genau?
»Kommt mit, meine braven Jungen.« Irgendeine Hirn-Alkohol-Schnittstelle ließ seine Laune innerhalb einer Mikrosekunde von Paranoia zu Jovialität wechseln.
»Kenne hier jeden Zentimeter. Ein ganzes Jahrhundert. Äh? Äh?«
I See You.
Jemand hielt das offenbar für witzig. Wahrscheinlich jemand ohne jeden Sinn für Humor. Jedenfalls war die ICU, die
Internet Crimes Unit
von Scotland Yard, erst ein paar Jahre alt – der jüngste Versuch, die nationale Zusammenarbeit mit Blick auf einen kriminellen Wachstumsmarkt voranzutreiben. Steve Horton hatte eine Konferenzschaltung eingerichtet, zwischen Inspector Susan Gardner von der Internet-Truppe, DS Kerr und sich selbst. Am Telefon in seinem Büro war Kerr der Einzige von den Dreien, der sich allein auf die Sprache verlassen musste. Gardner und Horton waren zusätzlich über einen Videostream miteinander verbunden und konnten sich zuwinken und hin und wieder ein Grinsen über Kerrs technische Ignoranz austauschen. Das Hauptaugenmerk der ICU lag auf illegalem Glücksspiel, Aktienbetrug und Pädophilenringen, aber auch altmodische Dinge wie politische Subversion und Terrorismus tauchten in ihrem Aufgabenprofil auf.
Gardner erklärte ihnen, ja, die Website von Aktion &Widerstand sei während der letzten zwölf Monate beobachtet und in Kategorie sechs eingestuft worden, eine relativ niedrige Risikoebene.
»Was bedeutet, dass die Website einmal monatlich gespidert, also durchleuchtet wird. Dabei verzeichnen wir automatisch alle Veränderungen und Ergänzungen, aber ich fürchte, das ist es auch schon«, sagte sie.
»Sie haben also nicht versucht auszumachen, wo die Website gehostet wird und wer dahintersteckt?«, fragte Kerr.
Sie erklärte ihm genau das, was Horton bereits am Sonntagnachmittag ausgeführt hatte, über Spiegel-Websites und die Probleme, die damit zusammenhingen. Bemerkenswert, dachte er, er verstand sogar einiges davon.
»Nehmen wir einmal an, die Website wäre als hohes Risiko eingestuft worden. Was wäre dann geschehen?«
»Dann hätten wir eine Operation
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