Reid 2 Die ungehorsame Braut
dass Sadie anschließend als Anstandsdame fungieren würde und sie sich nicht ungestört mit Rafe unterhalten könnte.
Die kleine Reisegesellschaft beschloss einstimmig, dass es das Beste wäre, wenn sie die Nacht über in Esmeraldas Haus blieben. Die Stimmung während des Abendessens war gut, doch je weiter der Abend fortschritt, desto melancholischer wurde Esmeralda.
»Wir werden uns morgen früh wohl nicht mehr begegnen«, sagte sie mit belegter Stimme zu Ophelia. »Ich mag Abschiede nicht, hoffe aber, dass wir uns in Bälde Wiedersehen, mein Mädchen. Ich habe Ihre Gesellschaft wirklich sehr genossen.«
»Ich werde Sie auch vermissen«, antwortete Ophelia. »Sind Sie sicher, dass Sie nicht mit uns nach London kommen wollen, um das Ende der Saison zu feiern?«
»Um Gottes willen, nein. Das ist nur etwas für junge Leute.
Aber ich verspreche Ihnen, Sie zu Ihrer Hochzeit zu besuchen, sobald Sie einen passenden Gemahl gefunden haben.«
Vorausgesetzt, der Tag würde jemals kommen. Ophelia hatte sich fest vorgenommen, sich auf die Suche nach einem passenden Kandidaten zu machen. Da sie sich nach ihrer Rückkehr nicht mehr mit ihrer ungewollten Verlobung beschäftigen oder nach Wegen aus derselben suchen musste, konnte sie sich in der Tat endlich der Wahl eines geeigneten Partners widmen. Allzu schwer dürfte das trotz des nahenden Saisonendes nicht werden, oder? Schließlich konnte sie jeden Mann haben, den sie nur wollte...
Erschrocken über sich selbst, unterbrach sich Ophelia im Stillen. Hatte sie früher ständig solche entsetzlichen Gedanken gehabt? Ihr einstiges Verhalten aus einem völlig anderen Blickwinkel zu betrachten, war hochgradig erhellend. Unsensibel, gefühlskalt, egozentrisch war sie gewesen. Spielte es da eine Rolle, dass sie sich im Recht gefühlt hatte? Dass sie andere so behandelt hatte, wie diese sie behandelt hatten? Zumindest hatte sie sich das weismachen wollen.
Sie würde sämtliche ihrer Beziehungen überprüfen müssen, auch die zu ihren Eltern. Es wäre eine Wohltat, ihrem Vater ausnahmsweise einmal nicht mit Groll und Hass entgegenzutreten. Wenn es ihr gelänge, sich mit ihm zu unterhalten, ohne dass ihre Verbitterung die Zügel in die Hand nähme, dann hätte sie gewonnen. Mit diesem Gedanken schlief Ophelia ein.
Am nächsten Morgen fuhren sie in aller Herrgottsfrühe weiter. Genau wie Ophelia vermutet hatte, wurde es eine eher ungemütliche Fahrt. Rafe hüllte sich die meiste Zeit über in tiefes Schweigen. Ein ums andere Mal versuchte Ophelia, ihn in ein Gespräch zu verwickeln, jedoch ohne Erfolg. Schließlich gab sie auf.
Erst als sie vor Summers Glade vorfuhren, merkte Ophelia, dass sie nicht den direkten Weg nach London genommen hatten. Sadie sprach es aus, wozu Ophelia der Mut gefehlt hatte. »Was, zum Teufel, machen wir denn hier schon wieder?«
Rafe musste lachen, als er den pikierten Gesichtsausdruck der beiden bemerkte. »Ich steige hier aus, um Duncan und Sabrina einen Besuch abzustatten.«
»Es wäre nett gewesen, wenn du mich ein wenig früher darüber aufgeklärt hättest«, sagte Ophelia leicht verstimmt.
»Ich bitte vielmals um Entschuldigung, aber ich dachte, das hätte ich längst getan«, antwortete Raphael achselzuckend. »Wäre das jedoch nicht der perfekte Zeitpunkt für dich, das Gelernte in die Tat umzusetzen? Wie wäre es, wenn du bis zur Hochzeit bliebest?«
Ophelia musste nicht lange über ihre Antwort nachdenken. »Nein, die beiden würden ohnehin nicht glauben, dass ich ihnen wohlgesinnt bin, und ich möchte ihnen nicht den schönsten Tag ihres Lebens vermasseln. Ich komme auch allein nach Hause.«
»Wie du meinst. Dann sehen wir uns also in wenigen Tagen in London.«
»Versprichst du mir das?«
»Aber natürlich doch. Die Wahrscheinlichkeit, dass wir uns auf einem Fest oder einem Ball treffen, ist recht hoch.«
Ophelia, die etwas gänzlich anderes im Sinn gehabt hatte, gab sich größte Mühe, ihre Enttäuschung hinter einem kühlen Lächeln zu verbergen. Ihre gemeinsame Zeit war unweigerlich vorbei.
Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, stieg Raphael aus und schloss die Tür hinter sich. Einfach so. Ohne ein Wort des Abschieds, ohne eine Ermahnung, sie möge sich gut benehmen, ohne...
Doch dann wurde die Tür aufgerissen, und Rafe zog Ophelia an sich und gab ihr einen festen Kuss auf den Mund. Ein Blick in seine glühenden Augen, und Ophelia wurde von einem starken Kribbeln erfasst. Doch so schnell das Gefühl sich eingestellt hatte,
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