Reid 2 Die ungehorsame Braut
zu halten. Da ihr dieses Kunststück bislang noch nie geglückt war, deutete sie dies als gutes Zeichen.
Als sie den Raum betrat, saß er bereits hinter seinem ausladenden Schreibtisch. Ophelia hasste dieses Zimmer, wo sich die meisten ihrer Streitgespräche zugetragen hatten. Vornehmlich in Grün- und Brauntönen ausgestattet, konnte der Raum als geschmackvoll bezeichnet werden; Ophelia aber fand ihn ziemlich deprimierend. Einmal, vor langer Zeit, hatte sie diesen Raum geliebt, vor allem, wenn sie ihren Vater hier vorgefunden hatte...
Für gewöhnlich saß sie ihm gegenüber, doch heute entschied sie sich dafür, sich ans Fenster zu stellen, von dem aus sie auf die Straßenecke blicken konnte. Die Vorhänge waren noch nicht vorgezogen worden, wenngleich ein Feuer im Kamin hinter dem Schreibtisch loderte, um die Kälte zu vertreiben. Die Laternen draußen brannten bereits, der Straßenrand war von unzähligen Kutschen gesäumt. Überraschenderweise schneite es leicht. Nicht genug, als dass der Schnee liegen geblieben wäre, aber es war hübsch anzusehen, wie die Flocken im Schein der Laternen herumwirbelten. Der Anblick beruhigte sie ein wenig.
»Hast du einen Heiratsantrag von Locke mit nach Hause
Ophelia schloss die Augen, ehe sie antwortete. »Ist es das, worauf du gehofft hattest?«
»Gehofft? Nein! Erwartet? Ja! Das wäre die einzig passable Möglichkeit, um die zweite aufgelöste Verlobung mit Duncan MacTavish wiedergutzumachen.«
Er hatte mit lauter Stimme gesprochen, um seinen Standpunkt zu untermalen. Ophelia blieb unverändert am Fenster stehen, drehte sich nicht zu ihm um. Wie oft war sie hierhergekommen, in der Hoffnung, er würde ihr einen Funken Aufmerksamkeit schenken. Oft war ihr gar nicht aufgefallen, dass er gar keine Zeit für sie erübrigt hatte. Es war schon eigenartig, dass Kinder bestimmte Dinge als selbstverständlich erachteten, wie zum Beispiel die Liebe der eigenen Eltern.
»Raphael Locke ist ein Draufgänger«, hob sie mit gelangweilter Stimme an. Damit hätte das Thema beendet sein können, doch so leicht würde Ophelias Vater nicht aufgeben.
»Ist er das?«
Genau, wie sie es sich gedacht hatte. Diese Information ließ ihn kalt. Selbst wenn Raphael den schlechtesten Ruf im ganzen Land genoss, hätte ihr Vater nichts gegen ihren Besuch bei ihm einzuwenden gehabt. Der Titel war alles, was ihn interessierte.
»Dementsprechend verspürt er kein gesteigertes Interesse daran, mit mir oder einer anderen vor den Altar zu treten.« Sie drehte sich um, damit sie die Reaktion ihres Vaters studieren konnte. »Wenn mich nicht alles täuscht, meinte er, er werde keinesfalls noch in diesem Jahrhundert heiraten.«
»Blödsinn. Wenn es jemand schafft, die Haltung eines Mannes zu ändern, dann du.«
Das war ein Kompliment - wenn auch ein recht verschrobenes. Ophelia wünschte sich, sie könnte es als solches betrachten, fühlte sich aber stattdessen beleidigt.
Sie hatte nicht vor, ihn wissen zu lassen, wie sehr sie sich mit Zähnen und Klauen gegen die Einladung gestemmt hatte und dass sie mehr oder weniger von Raphael in die raue Landschaft Northumberlands verschleppt worden war. Zum einen würde es ihn nicht kümmern, zum anderen war dieser Umstand längst kein Thema mehr für sie. Sie hatte dem unfreiwilligen Ausflug mehr abgewonnen, als sie sich je hatte erträumen lassen. Und dass sie in Gegenwart ihres Vaters noch nicht explodiert war, war ein erstklassiges Beispiel für den Erfolg von Rafes Intervention.
»Ist er wenigstens in dich verliebt, wie all die anderen?«, wollte Sherman wissen.
»Nein, aber wir sind in gewisser Weise Freunde geworden.«
»Soll das heißen, er hat nicht versucht, sich an dich heranzumachen? Ein stadtbekannter Draufgänger, der nicht einmal versucht hat, dich zu verführen?«
Ophelia errötete und spürte, wie Wut in ihr aufstieg. »Du wusstest also davon, dass er ein Draufgänger ist, und hast trotzdem erlaubt, dass ich ihm und seiner Familie einen Besuch abstatte?«
»Natürlich habe ich das gewusst. Er ist das Beste, was England derzeit an Junggesellen zu bieten hat. Und jetzt raus mit der Sprache. Warum ist er dir durchs Netz gegangen?«
Der Versuch, ihn in die Defensive zu drängen, hatte nicht gefruchtet. Um jemanden in die Ecke zu drängen, musste er oder sie einen Funken Schuldbewusstsein in sich tragen. Nicht so ihr Vater. Ihre Ungehaltenheit drohte allmählich außer Kontrolle zu geraten.
»Vielleicht, weil ich ihn mir gar nicht angeln
Weitere Kostenlose Bücher