Reid 2 Die ungehorsame Braut
einunddreißig
A ls Ophelia am nächsten Tag aufstand, war es bereits Mittag. Sie hatte nicht vorgehabt, so lange zu schlafen, wenngleich sie Sadie aufgetragen hatte, sie unter keinen Umständen zu wecken. Schließlich hatte sie gedacht - gehofft -, sie würde einen nächtlichen Besucher haben, der bis in die Morgenstunden bei ihr blieb. Vor dem Zubettgehen hatte sie noch einem Bediensteten aufgetragen, man möge ihr Pferd satteln, damit sie am Morgen einen Ausritt in den Hyde Park unternehmen konnte. Als passionierte Reiterin hatte sie es während ihres Aufenthalts auf Alder’s Nest vermisst, die Welt aus dem Sattel an sich vorbeiziehen zu sehen. Für gewöhnlich ritt sie mehrere Male in der Woche aus.
Doch sie hatte verschlafen, und jetzt war es zu spät, um auszureiten. Um fünf Uhr in der Früh hatte sie das letzte Mal auf ihre Uhr gesehen. Die ganze Nacht lang hatte sie darauf gewartet, dass Rafe sich ins Haus schlich und sich zu ihr gesellte. Eine geschlagene Stunde hatte sie an der Tür nach seinen Schritten gelauscht. Welch ein dummes Ding sie doch war. Er war nicht gekommen.
Vermutlich war ihm aufgegangen, dass es zu gefährlich war. Oder er war nicht gekommen, weil er sich nach ihrer Bemerkung, dass sie die Tür nur vielleicht unverschlossen ließe, nicht sicher war, ob sie seiner Bitte nachkäme. Sie hätte sich nicht so vorlaut geben dürfen. Auf der anderen Seite konnte es genau so gut sein, dass er es gar nicht ernst gemeint hatte. Schließlich hatte er den Vorschlag in den Raum geworfen, nachdem sie über ihre Wut gesprochen hatte, die sich bereits durch den Kuss in Luft aufgelöst hatte. Ja, vermutlich hatte er sich nur einen Scherz erlaubt, und sie hatte es zugelassen, dass er Hoffnung in ihr schürte.
Ophelia tapste zum Fenster und zog die teuren lavendelfarbene Vorhänge zurück. Der Duft der beiden Rosen, die man ihr auf den Schreibtisch unterhalb des Fensters gestellt hatte, stieg ihr in die Nase. Ihre Mutter nannte weder ein Gewächshaus noch einen Garten ihr Eigen, und dennoch gelang es ihr während der Wintermonate immer wieder, das Haus mit frischen Blumen auszustaffieren.
Ophelia hatte ein hübsches Zimmer, dafür hatte ihre Mutter gesorgt. Ob Teppich, Vorhänge, Tapeten oder Tagesdecke, alles erstrahlte in Rose und Lavendel, die gut zum dunklen Kirschbaumholz passten. Selbst die Beine des Waschtischs verbargen sich hinter einem pinkfarbenen Samtvorhang. Sie hatte sogar ein eigenes Ankleidezimmer, in dem sich ihre umfangreiche Garderobe befand.
Ein Blick aus dem Fenster genügte, um zu wissen, dass es in der vergangenen Nacht kaum geschneit hatte. Ihr Zimmer ging zur Straße hinaus. Wenn die Fenster geschlossen waren, weckte der Verkehr sie so gut wie nie auf. Der Mann, der gerade am Haus vorbeiritt, erinnerte sie daran, dass sie sicherstellen musste, dass ihre Stute in den Stall zurückgebracht wurde. Augenblick mal, sie kannte den Reiter. Ihr Herz machte einen Satz. Rafe! Da, jetzt verlangsamte er sogar den Schritt des Pferdes, um sich ihr Elternhaus zu besehen.
Ophelia winkte ihm zu, doch er sah sie nicht, hatte den Blick auf die unteren Fenster gerichtet. Im nächsten Augenblick ritt er weiter. So hastig wie noch nie in ihrem Leben zog Ophelia sich an und eilte nach unten, in der Hoffnung, dass ihr Pferd noch draußen stand. Sie hatte Glück, und auch ihre Eskorte war noch zugegen. Für gewöhnlich wurde sie von einem Bediensteten namens Mark begleitet. War sie nicht gerade am Fuß der Treppe an ihm vorbeigelaufen?
Sogleich kam er zur Tür und sagte: »Ich bin sofort bei Ihnen, Lady Ophelia, ich muss nur schnell meinen Mantel holen.«
»Sei so nett und hilf mir erst«, erwiderte Ophelia und fügte hinzu, sobald sie im Sattel saß: »Ich werde am Eingang des Parks auf dich warten. Beeil dich.«
Als er sich daraufhin in Ermahnungen erging, sie möge doch lieber auf ihn warten, tat Ophelia, als hätte sie ihn nicht gehört. Das prickelnde Gefühl, das sie den Großteil der Nacht um den Schlaf gebracht hatte, war der Grund dafür, dass sie sofort losgaloppierte. Mit ein wenig Glück würde sie Rafe einholen. Mit viel Glück würde er ein neues Stelldichein ohne Missverständnisse vorschlagen.
Doch Ophelia sollte enttäuscht werden. Sie ließ selbst die Seitenstraßen nicht aus, konnte Rafe aber nirgends entdecken. Offenbar hatte sie zu viel Zeit mit dem Ankleiden verloren. Missmutig blieb sie am Eingangstor des Parks stehen, um wie versprochen auf Mark zu warten.
Sie hatte
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