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Reif für die Insel

Reif für die Insel

Titel: Reif für die Insel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bill Bryson
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fröhliche, üppig wuchernde Augenbrauen, die wie die Spritzenden bei Baisers aussahen. »Hat doch keine Ahnung von Zügen«, sagte er.
    »Wie bitte?« sagte ich mißtrauisch.
    »Thoreau.« Er deutete mit dem Kopf auf mein Buch. »Hat keine Ahnung von den Zügen, mit denen er fährt. Oder er behält es jedenfalls für sich.« Darüber lachte er herzlich und freute sich so sehr, daß er es wiederholte. Dann stützte er die Hände auf die Knie und lächelte, als versuche er sich zu erinnern, wann er und ich das letzte Mal soviel Spaß miteinander gehabt hatten.
    Ich bedachte diese geistreiche Bemerkung mit einem knappen, anerkennenden Nicken und wandte mich dann wieder meinem Buch zu, in der Hoffnung, daß er diese Geste korrekt verstand, nämlich als Aufforderung, sich zu verpissen. Er aber langte herüber, krümmte einen Finger und zog das Buch herunter – was mich normalerweise schon fuchsteufelswild macht. »Kennen Sie sein Buch – Abenteuer Eisenbahn? Da kurvt er durch ganz Asien. Kennen Sie das?«
    Ich nickte.
    »Wissen Sie, daß er in dem Buch mit dem Delhi Express von Lahore nach Islamabad fährt und nicht einmal den Lokomotiventyp erwähnt?«
    Weil offenbar ein Kommentar von mir erwartet wurde, sagte ich: »So?«
    »Ist das denn zu fassen? Wozu ist ein Eisenbahnbuch nutze, wenn man nicht über die Lokomotiven redet?«
    »Aha, dann mögen Sie Eisenbahnen?« sagte ich und wünschte umgehend, ich hätte es nicht gesagt.
    Als nächstes weiß ich nur, daß das Buch auf meinem Schoß lag und ich dem langweiligsten Menschen der Welt zuhörte. Eigentlich bekam ich nicht richtig mit, was er sagte. Ich war von seinen hochsprießenden Augenbrauen und den ebenso auffalligen Nasenhaaren wie hypnotisiert. Als hätte er sie in einem Wunderwachstumswässerchen gebadet. Er war nicht nur einfach Eisenbahnfan, sondern Eisenbahnschwätzer, eine viel gefährlichere Spezies.
    »Also, dieser Zug ist eine Metro-Cammel mit Triebwageneinheit, im Werk Swindon gebaut, schätzungs-weise … also, ich würde mal sagen, zwischen Juli und August 1986, allerhöchstem bis September 1988. Zuerst dachte ich, er könnte nicht aus Swindon zwischen 86 und 88 sein. Wegen des Kreuzstichs auf den Rückenlehnen, aber dann sind mir die Hohlnieten an den Seitenwänden aufgefallen, und da dachte ich, also, ich dachte: Hier, Cyril, alter Knabe, haben wir einen Hybriden. Heutzutage kann man sich ja auf nichts mehr verlassen, aber die Hohlnieten beim Metro-Cammel lügen nicht. Na, wo sind Sie zu Hause?«
    Ich brauchte ein paar Augenblicke, um zu begreifen, daß er mich etwas gefragt hatte. »Hm, in Skipton«, sagte ich, was nur halb gelogen war.
    »Da oben habt ihr überkreuz gewölbte Spurkränze von Crosse & Blackwell«, sagte er oder etwas ähnlich mir
    Unverständliches.
    »Also ich wohne in Upton-on-Severn–«
    »Der Severn fließt und fließt«, sagte ich, aber er kapierte natürlich nichts.
    »Genau. Er fließt direkt an meinem Haus vorbei.« Er schaute mich ein wenig ärgerlich an, als versuchte ich, ihn von seinem Thema abzubringen. »Bei uns gibt es ja nun die Z-46 Zanussi-Drehgestelle mit horizontalen Stoßdämpfern von Abbott & Costello. Den Z-46 erkennt man immer, weil er an den Nahtstellen patuusch-patuusch macht und nicht katoink-katoink. Da verrät er sich. Todsicher. Ich wette, das wußten Sie nicht.«
    Zum Schluß tat er mir nur noch leid. Seine Frau war zwei Jahre zuvor gestorben – Selbstmord, schätze ich –, und seitdem fuhr er mit Hingabe die Eisenbahnstrecken Großbritanniens ab, zählte Nieten, merkte sich Stirn-plattennummern und tat, was auch immer diese armen Menschen tun, um sich die Zeit zu vertreiben, bis Gott sie in einem gnädigen Tod zu sich nimmt. Ich hatte nicht lange davor in einem Zeitungsartikel gelesen, daß jemand von der British Psychological Society das Hobby von Eisenbahnfans als eine Form von Autismus, genauer als Aspergers Syndrom, bezeichnet hatte.
    In Prestatyn stieg er aus – wegen eines Faggots & Gravy 12-Tonnen-Mischtenders, der angeblich an dem Vormittag durchkommen sollte. Ich winkte ihm durchs Fenster, während der Zug aus dem Bahnhof fuhr, und genoß die plötzliche Stille. Dann lauschte ich, wie der Zug über die Schienen sauste – es klang wie »Aspergers Syndrom, Aspergers Syndrom« – und verbrachte die letzten vierzig Minuten bis Llandudno damit, gemütlich die Nieten zu zählen.
     

Zwanzigstes Kapitel
     
    Vom Zug aus sah Nord-Wales wie eine Ferienhölle aus. Wie in einem Gefangenenlager

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