Reif für die Insel
Ich wollte mich gerade umdrehen und fliehen, da trat der Besitzer aus einem Hinterzimmer und vereitelte meinen Rückzug mit einem gelangweilten »Ja?«. Ein kurzer Dialog enthüllte, daß ein Einzelzimmer mit Frühstück für 19,50 Pfund zu haben war – das grenzte doch an Betrug. Nie und nimmer würde ich in einer solch tristen Bude zu einem solchen räuberischen Preis die Nacht verbringen. »Klingt gut«, sagte ich und buchte. Ach, Neinsagen ist so schwer.
Mein Zimmer entsprach voll und ganz meinen Erwartungen. Es war kalt und unfreundlich, hatte melaminbeschichtete Möbel, einen schmuddeligen, verfilzten Teppich und solch mysteriöse Flecken an der Zimmerdecke, bei denen man immer an einen vergessenen Leichnam oben drüber denken muß. Durch das einzige, undichte Schiebefenster griffen eisige Finger nach mir. Ich zog die Vorhänge zu und war nicht überrascht, daß man gewaltsam daran zerren mußte, bis sie sich bewegten, und sie sich in der Mitte natürlich auch nicht annähernd schlossen. Kaffeegeschirr stand dort, aber die Tassen waren – wohlwollend ausgedrückt – ekelig, und der Löffel klebte am Tablett. Im Badezimmer, das von einer weit entfernten Lampe, die mittels eines Stücks Seil zu aktivieren war, schwach erhellt wurde, wellten sich die Bodenkacheln, und in allen Ecken und Winkeln häufte sich der über die Jahre angesammelte Schmutz zentimeterdick. Nach einem Blick auf den gelben Kitt um Wanne und Waschbecken wußte ich, was der Hausherr mit seinem Schleim machte. Ein heißes Bad kam also nicht in Frage, ich spritzte mir etwas kaltes Wasser ins Gesicht, trocknete es mit einem Handtuch ab, das sich anfühlte wie ein Topfkratzer, und war froh, daß ich hinausgehen konnte.
Um Appetit zu kriegen und eine Stunde totzuschlagen, machte ich einen langen Spaziergang über die Promenade. Wunderbar. Die Luft war frisch und ruhig und keine Menschenseele unterwegs. Nur in den Hotelsalons und -speisesälen sah man ein Meer munter wogender weißer Schöpfe. Vielleicht fand ja hier eine Parkinson-Konferenz statt. Ich ging The Parade fast ganz hinunter und genoß die kalte Herbstluft und gepflegte Schönheit der Umgebung: zur Linken die weich schimmernden Hotels, zur Rechten die tintenschwarze Leere, das ruhelose Meer, und auf den Landspitzen Great und Little Ormes funkelten Lichter.
Ich konnte nicht umhin zu bemerken – es fiel mir wie Schuppen von den Augen –, daß fast alle Hotels und Pensionen entschieden besser aussahen als meine. Bis auf wenige Ausnahmen hatten sie alle Namen, die anderen Orten Respekt zollten – »Windermere«, »Stratford«, »Clovelly«, »Derby«, »St. Kilda«, sogar »Toronto« –, als befürchteten die Besitzer, die Besucher würden einen Schock erleiden, wenn man sie daran erinnerte, daß sie in Wales waren. Nur ein Haus deutete mit seinem Schild » Gwely a Brecwast/ Bed and Breakfast« daraufhin, daß ich, zumindest formal, in einem anderen Land war.
In einem unscheinbaren Restaurant in einer Seitenstraße der Mostyn Street speiste ich einfach zu Abend und begab mich, nicht gewillt, im Zustand totaler Nüchternheit in mein schmuddeliges Zimmer zurückzukehren, auf die Suche nach einem Pub.
Von diesen lebenswichtigen Institutionen hatte Llandudno überraschend wenige. Ich mußte eine Weile laufen, bis ich eins fand, das auch nur in etwa einladend aussah. Innen war es ein typisches Stadtpub – kastanien-roter Plüsch, abgestandene Luft, verraucht – und voll, vor allem mit jungen Leuten. Ich setzte mich in der Hoffnung an den Tresen, daß ich meine Nachbarn belauschen konnte und mehr Beachtung fand, wenn mein Glas leer war, aber es sollte weder das eine noch das andere sein. Die Musik und der Hintergrundlärm waren so laut, daß ich nicht verstand, was meine Nachbarn sagten, und neben der Kasse wollten so viele Gäste bedient werden, daß der einzige abgehetzte Barmensch das leere Glas und die bettelnde Miene an meinem Ende nicht bemerkte. Da saß ich, trank Bier, wenn ich welches bekommen konnte, und beobachtete, wie immer in solchen Situationen, den interessanten Prozeß, wie die Gäste, wenn sie ihr Bier ausgetrunken haben, dem Barmann ein mit Schaumresten und goldenen Tröpfchen beschmiertes Glas übergeben, das wieder sorgfältig gefüllt wird, bis der Schaum ein wenig überfließt und, angereichert mit einer unsichtbaren Ladung Bakterien, Spucke und Mikroteilchen von Essensresten seitlich am Glas hinuntertröpfelt in ein Tablett mit einem Loch fürs Übergelaufene,
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