Reif für die Insel
dürfen, stellte sich heraus, daß fast jedes britische Seebad diese Norm bei weitem überschritt. Die Abwässer der meisten größeren Städte wie zum Beispiel Blackpool waren mit dem Scheißometer oder mit was auch immer diese Dinge gemessen werden, gar nicht mehr zu erfassen. Damit stand die Regierung vor einem Problem. Weil sie es aber haßte, Geld für britische Strände auszugeben, wo es doch wunderbare Strände für reiche Leute auf Mustique Island und Barbados gibt, entwarf sie Richtlinien, nach denen offiziell erklärt wurde – grotesk, aber ich schwöre, es ist wahr –, daß Brighton, Blackpool, Scarborough und viele andere führende Seebäder genau genommen keine Badestrände hatten. Der Herr weiß, als was sie diese weiten Sandflächen bezeichneten – Abwässerzwischenlager, nehme ich an –, aber damit wurden sie das Problem los, ohne es zu lösen und ohne, daß es den Fiskus einen Penny kostete. Und darauf kommt es ja schließlich an, oder wie im Falle der gegenwärtigen Regierung: Einzig darauf kommt es an.
Aber nun Schluß mit politischer Realsatire! Auf nach Morecambe! Dort fuhr ich – mit diversen klappernden Triebwagen – als nächstes hin, einerseits, weil ich schmerzliche Vergleiche mit Blackpool anstellen wollte, andererseits, weil ich Morecambe mag. Ich weiß wirklich nicht, warum, aber ich mag es.
Wenn man es jetzt besucht, ist kaum zu glauben, daß es sich vor gar nicht allzulanger Zeit mit Blackpool messen konnte. Ja, von etwa 1880 an war Morecambe jahrzehntelang das Seebad im Norden Englands. Es hatte die ersten Strandilluminationen in Großbritannien. Es ist die Geburtsstätte von Bingo, Zuckerstangen mit Schriftzügen drin und Rutschbahnen. Während der berühmten Wakes Weeks, wenn ganze nordenglische Fabrikstädte Urlaub machten (und man Morecambe Bradford-by-Sea nannte), strömten 100000 Gäste gleichzeitig in seine Pensionen und Hotels. Zu seinen Glanzzeiten hatte es zwei Bahnhöfe, acht Music-Halls, acht Kinos, ein Aquarium, einen Rummel, eine Menagerie, einen sich drehenden Turm, einen Park zum Bootchenfahren, einen Sommerpavillon, einen Wintergarten, Großbritanniens größtes Schwimm-bad und zwei Piers. Der eine, der Central Pier, war der schönste und schmuckste im Land, mit sagenhaften Türmen und Kuppeldächern – ein orientalischer Palast, der in der Bucht von Morecambe zu schwimmen schien.
Es hatte mehr als tausend einfache Gästehäuser für die Massen, bot aber auch Zerstreuungen für extravagantere Ansprüche. Berühmte Theaterensembles und Orchester spielten dort so manche Saison, und viele Hotels standen den Luxusherbergen auf dem Kontinent in nichts nach, zum Beispiel das Grand und das Broadway, wo Anfang des Jahrhunderts gutbetuchte Gäste zwischen einem Dutzend Hydrotherapien wählen konnten: »Fichtennadel, Solbad, Schaumbad à la Plombiere und Schottische Dusche«.
Das wußte ich alles, weil ich ein Buch mit dem Titel Lost Resort: The Flow and Ebb of Morecambe gelesen hatte, von einem ortsansässigen Pfarrer namens Roger K. Bingham. Es ist nicht nur außergewöhnlich gut geschrieben (und an dieser Stelle muß ich einmal sagen, wieviele Leute sich in diesem Land um lokale Geschichtsschreibung verdient machen), sondern auch voller Fotos von Morecambe aus seiner Blütezeit, die in krassem Widerspruch zu dem Anblick standen, der sich mir bot, als ich, einer von nur drei Fahrgästen, aus dem Zug stieg und in die sonnenbeschienenen, aber schrecklich verblichenen Reize der Marine Road hinaustrat.
Schwer zu sagen, wann oder warum der Niedergang Morecambes begann. Bis weit in die Fünfziger hinein war es populär – noch 1956 hatte es 1300 Hotels und Pensionen, zehnmal soviel wie heute –, aber sein Abstieg hatte schon lange vorher begonnen. Der berühmte Central Pier wurde in den Dreißigern durch einen Brand erheblich beschädigt und verfiel dann allmählich zu einer peinlichen Ruine. 1990 hatten die Stadtbehörden ihn sogar schon vom Stadtplan getilgt – sie taten einfach so, als sei der verfallene Trümmerhaufen, der ins Meer hineinragte und die Promenade dominierte, gar nicht da. Mittlerweile war der West End Pier 1974 von einem Wintersturm hinweggerissen worden. Die prächtige Alhambra-Music-Hall brannte 1970 ab, und das Royalty Theatre wurde zwei Jahre später dem Erdboden gleichgemacht, damit Platz für ein Einkaufszentrum war.
Anfang der Siebziger war Morecambes endgültiger Verfall dann nicht mehr aufzuhalten. Eines nach dem anderen verschwanden die
Weitere Kostenlose Bücher