Reihe der Versuche 05 - Versuch über den Pilznarren
keinem Menschen als Gegenüber, den Hut inzwischen in der Hand, die Laubhügelwälder hinanstieg. Es muß eine steile Wegstelle gewesen sein, wie sonst hätte er das, was ihm da-dort auf dem Waldboden so »unversehens augenfällig« (seine Worte später an mich) wurde, zugleich in Augenhöhe gehabt. Es war das eine Augenhöhe, wie sie ihm noch keinmal untergekommen war. Nichts Geschichtsträchtiges stahl sich dazwischen wie etwa zwischen zwei Staatsmänner, zwischen zwei Künstler; nichts Schicksalhaftes wie, jenseits der Menschheitsgeschichte, manchmal zwischen Mann und Frau (nicht bloß in den Romanen von Georges Simenon); nichts Unbeschreibliches, wie es ihm, dem Strafanwalt, mehr als einmal widerfuhr auf Augenhöhe mit dem Angeklagten – und doch – und doch.
Die Augenhöhe, jetzt, sie war eine beschreibliche. »Ja, da schau her!« Die Sache, das Ding ihm vor Augen, zugleich ihm im Auge, sie, es, war beschreiblich. Aber sie, es selbst hatte keinen Namen, wenigstens keinen, der, im Augenblick, auf es, sie zutraf. Sogar »Ding« oder »Sache«, diese Wörter, sie trafen es nicht. »Nicht lachen!« so mein Freund dann zu mir: »Was mir da jäh – nein, nicht jäh, unversehens – unter die Augen geriet: Ich nahm es, für den Moment, als etwas Namenloses wahr, oder wenn ich einen Namen dafür hatte, dann, in einem stillen Ausruf, in meinem Innern: ›Ein Wesen!‹, mit einem ›Oho!‹ davor, wie oft am Anfang der Sätze in den Romanen von Knut Hamsun: ›Oho, ein Wesen!‹ Und daß ich’s nicht vergesse: Noch vor dem stillen Ausruf – jetzt erst, im Erzählen, fällt mir das frischein – geschah ein womöglich noch stillerer, und der ging so: ›Jetzt!‹«
Oho! Sieh da!: Es war ihm, als habe er, ohne es zu wissen, auf diesen Augenblick, das Ansichtigwerden, auf diese Begegnung und dieses Zusammentreffen gewartet. Seit wann? Es war eine Zeit, welche sich nicht bemessen ließ: »vor unvordenklichen Zeiten«, und das konnte ebensogut vor seiner Geburt wie seit gestern sein. Übertrieb er da nicht, erst einmal vor sich selber, wie er da, hast du Augen, unversehens vor seinem ersten Steinpilz stand, einem dabei gar nicht besonders großen, freilich so gerade gewachsenen, mit einem leuchtend rotbraunen, von keiner Schnecke oder sonst einem Getier versehrten Hut und dessen reinweißer Unterseite. Wie im Bilderbuch? Mehr, wie entsprungen aus dem Fabelreich? Dieses existierte also, war Teil oder Bestand der Wirklichkeit; entpuppte sich in dem Fabelwesen da als so leibhaftig wie nur sonst etwas; »es in Augenhöhe zu finden«, schrieb er mir viel später, »bedeutete mir mehr, oder jedenfalls anderes, als einen Löwen zwischen den Bäumen sich nähern zu sehen – von klein auf einer meiner Wiederholungsträume –, oder, sagen wir, unvermutet vor einem werweißwohergezauberten Einhorn zu stehen, und etwas Grundanderes als in der Legende dem Jäger und nachmaligen Heiligen, dem im tiefen Wald der Hirsch mit dem Kreuz im Geweih begegnet. Mein Fabelwesen, mein überhaupt erstes und im übrigen bisher auch letztes, hatte so ganz und gar nichts gemein mit einem Legendentier. Es war Teil wie auch Zusatz des hellichten Tages und, statt die Wirklichkeit in Frage zu stellen, ins Zwielicht zu rücken und, wie im Traum vom heranschleichenden Löwen, mir den Boden unter den Füßen wegzuziehen, verstärkte den Boden und in gleichem Maße die Tageshelle; das Fabelgewächs, es erhöhte mir die Tagwirklichkeit, was mir bei der Begegnung mit einem aus der Erdegewachsenen Einhorn nicht vorstellbar ist, und außerdem ist mir bis heute kein leibhaftiges gegenübergestanden: von ihm, beim Anblick des Löwen, Pfeil und Bogen oder was auch als Jäger angelegt auf den Hirsch, hätte mir das Herz wohl schneller geschlagen, so oder so. Aber, glaub mir, vor meinem ersten Steinpilz, mit mehr als dem halben Leben hinter mir, hat es höher geschlagen, so hoch, ob Du mir glaubst oder nicht, wie noch keinmal zuvor!«
Wie das? Aufgewachsen in einer waldreichen Gegend und von Kindesbeinen an, wie man bei uns damals sagte, »in die Pilze gegangen«, auf der Suche nach denen, will heißen, den verkäuflichen, den gelben, in die hintersten und höchstgelegenen Nadelwaldzipfel gerobbt und gekrochen und nie auf den König der Fußvolkscharen gestoßen? Nie. Kein einziges Mal. Oder vielleicht hatte der doch einmal aufgeragt wie der eine jetzt, und dort im angegrautenMoos, hervorleuchtend aus grauer Fichtenspreu und abgefallenen Nadeln, noch auffälliger
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