Rein Wie Der Tod
von dem verstehen würde, was er erzählte. Trotzdem kniete sie vor ihm und hörte zu. »Ich weiß nicht mehr, wie das Mädchen hieß«, flüsterte er. »Vierzehn Jahre jung, mit langen Wimpern und dichtem schwarzem Haar, das ihr tief den Rücken hinunterfiel. Sie war so schön, dass es wehtat, sie anzuschauen. Wir waren verloren, alle beide, und haben uns auch so benommen. Die ganze Zeit saßen wir in dem Café. Ihr Vater hat die Anzeichen richtig gedeutet und eine lokale Meute gegen uns aufgehetzt. Sie sollte uns vertreiben. So viel Prügel habe ich noch nie bekommen, weder vorher noch nachher. Zwei Polizisten kamen in einer Ente angefahren, aber da war mein Kumpel schon weg. Also hieß es: Ich gegen den Rest der Welt. Ich wurde verhaftet. Ich glaube, die Bullen haben mich mitgenommen, damit ich nicht ernsthaft verletzt wurde. Ich hatte weder einen Ausweis noch sonst irgendwas bei mir. Wurde in ein völlig lächerliches Büro gebracht, wo es aussah wie beim Sheriff in einem Western. Ein kleiner dicker Polizist zeigte auf die Zelle und redete und redete und wedelte mit dem Zeigefinger. Ich habe kein Wort von dem verstanden, was er gesagt hat, aber ich war auf hundertachtzig, dachte nur an meinen Freund, der die Meute auf den Fersen hatte. Nach einer Stunde war ich wieder frei. Fuhr zurück. Da wollten alle Männer des Dorfes plötzlich meine Kumpel sein. Sie haben mich gelobt für die Art, wie ich gekämpft hatte, und ein massiger Typ, dem ich ein blaues Auge verpasst hatte, wollte mir ein Bier ausgeben. Mein Freund war nirgends zu sehen. Ich rannte zurück zur Badestelle am Strand.«
Frank Frølich stand auf.
Er schwankte und fragte: »Wo ist das Bad?«
»Im Flur.«
Er wankte hinaus. Auf der Toilette roch es nach Parfüm. Er beugte sich über die Schüssel, steckte den Finger in den Hals und dachte: Es ist über zwanzig Jahre her.
Hinterher spülte er sich den Mund aus, wusch sich das Gesicht und betrachtete seine verquollene Visage im Spiegel.
Stand so da, ohne zu merken, wie die Zeit verging, bis Iselin an die Tür klopfte. »Wie geht es Ihnen?«
Er ging hinaus.
Sie hatte sich einen weißen Bademantel angezogen.
Er sah auf die Uhr. »Ich nerve Sie«, sagte er. »Sorry. Sie müssen sicher morgen arbeiten und sind ziemlich erschöpft. Ich werde gehen.«
»Ich mach uns mal Kaffee«, sagte sie und ging in die Küche.
Er setzte sich wieder in den Sitzsack. Merkte kaum, dass sie ihm einen heißen Becher in die Hand drückte.
»Ich war ganz von der Rolle, als ich den Film sah, den Andreas und sein Bruder aufgenommen haben. Es war, als würden die Bilder mit einer Geräuschkulisse in meinem Kopf verbunden.«
»Wie meinen Sie das?«
»Ich bin vom Dorf zum Strand gerannt. Später habe ich mich gefragt, warum ich gerannt bin. Ich wusste ja nichts. Aber ich bin gerannt. Da waren diese Zikaden in allen Bäumen, die haben einen fürchterlichen Lärm gemacht. Sie wissen sicher, was für einen Lärm ich meine. Seitdem kann ich diese Töne nicht mehr ertragen. Dann wurden es zwei Geräusche. Zirpende Insekten und ihre Schreie.« Er schlug sich auf die Brust. »Mein Herz. Bang, bang, bang, und Blutgeschmack im Mund und Schreie, die erst immer lauter wurden und dann plötzlich verstummten. Es fühlte sich an, wie wenn man einen Menschen an der Hand hält, der frei über einem Abgrund schwebt, und dann schafft man es nicht, ihn hochzuziehen, die Finger gleiten einem einfach aus der Hand.«
Er begegnete Iselins Blick und lehnte sich zurück. »Als ich ankam, war er fertig. Ging ins Wasser und nahm ein Nachtbad.«
»Wer?«
»Ein Typ, der bei der Kommune arbeitet.«
Er hob den Kopf.
Es war hell geworden.
34
Die Wand war eine einzige Collage aus Zeitungsausschnitten, Fotos, gezeichneten Pfeilen und Notizen. Im Zentrum ein Porträt von Veronika Undset und einige Detailangaben. Von ihrem Foto aus wiesen Pfeile zu den Fotos von Karl Anders, Kadir Zahid, Sivert Almeli, zu Daten, Uhrzeiten und Tatortbeschreibungen. Außerdem gab es Pfeile zu den Fotos von Erik Valeur beim Überqueren der Straße zu einem Wagen und zu dem Foto eines fahrenden Wagens. Darüber ein Abi-Foto von einem etwas angestrengt lächelnden Mädchen. Sie hielt den Kopf schräg und tat ihr Bestes für den Fotografen. Ein Leben - eine ganz persönliche Geschichte von Lachen, Weinen, Jubel, Freude, Erfolgen, Ambitionen, Zielen und nicht zuletzt von verlorenen Illusionen. Ein Leben, von dem Gunnarstranda nicht das Geringste ahnte. Abgesehen von einer
Weitere Kostenlose Bücher