Reinen Herzens
namenlose Person, zu der es einmal gehört hatte? Sie erinnerte sich an lange Nachmittage im Gerichtsmedizinischen Institut, in dem ihre Mutter arbeitete. Nachmittage, die sie während der Schulferien damit zugebracht hatte, ihr zu helfen, Knochen zu sortieren und daraus die Menschen wiedererstehen zu lassen, die sie einst gewesen waren. Die Begeisterung für diese Arbeit hatte in einem Studium der Anthropologie gemündet. Erst nach ihrem Abschluss war sie zur Medizin gewechselt, um Rechtsmedizinerin zu werden. Ihre Kommilitonen hatten in den Ferien immer im Krankenhaus gearbeitet, Magda hingegen hatte es wieder ins Rechtsmedizinische Institut gezogen. Es hatte sie fasziniert, was ihre Mutter aus diesen Knochen alles herauszulesen imstande gewesen war – nicht nur die Größe, die Statur und das Alter, ganze Biografien hatte sie rekonstruiert, Krankheiten, Unfälle und Ernährung inklusive. Am Ende hatten sie in den allermeisten Fällen ein Gesicht gehabt, einen Menschen mit seiner Geschichte – und einen Namen. Sie könnte es versuchen. Ihre Mutter hatte ihr über die Jahre alles beigebracht, was sie wusste. Vielleicht, dachte Magda nun, würde es ihr anhand des Beins gelingen, die Frau zu rekonstruieren. Trotzdem, es war nur ein Bein, nicht der Kopf, nicht der ganze Rest. Es wäre ein schwieriges Unterfangen. Im Grunde war es nahezu unmöglich. Sie lächelte. Nahezu unmöglich war gut genug für einen Versuch. Sie liebte schwierige Rätsel. Das war auch der Hauptgrund, warum sie Gerichtsmedizinerin geworden war. Nicht, dass sie etwas gegen lebende Patienten gehabt hätte, sie war sich nur der Tatsache bewusst, dass ihre Stärke nicht im Umgang mit den Lebenden lag. Sie wäre keine gute Ärztin geworden, dazu war sie zu ungeduldig mit den Schwächen ihrer Mitmenschen. Sie hatte früh bemerkt, dass sie großes Talent für die Diagnostik hatte, die therapeutische Seite aber, die zwangsläufig auf die Diagnose folgte, langweilte sie letztendlich. Sie war Wissenschaftlerin, nicht Heilerin. Magda besaß einen ausgeprägten detektivischen Spürsinn. Sie wollte wissen – wissen, wie ein Organismus funktionierte, was ihn am Laufen hielt, was ihn zum Sterben brachte und warum. Das Geheimnis des Lebens und des Todes – nicht mehr und nicht weniger als die grundsätzlichste aller Fragen. Die Gerichtsmedizin, fand sie, war die ideale Nische für ihren unbändigen Wissensdurst. Und nebenbei nützten die Erkenntnisse dieses Fachs auch den Kollegen, die sich lieber mit den Lebenden befassten.
Schuldbewusst gestand sie sich jetzt ein, dass es für sie – allem detektivischen Interesse zum Trotz – im Moment vor allem ein Mittel zum Zweck war, sich mit diesem Bein zu beschäftigen. Sie brauchte Ablenkung – Ablenkung von den Gedanken an David und an das Leben, das sie zusammen nicht führen würden. Er hatte ihren Wissensdurst verstanden, dachte sie traurig, hatte sich nicht einen Augenblick an ihrem für andere so unappetitlich anmutenden Beruf gestört – ganz im Gegensatz zu ihrem Exmann, der diesen Teil ihres Lebens immer abgelehnt hatte, bis er es nicht mehr hatte ertragen können und gegangen war – direkt in die Arme seiner Steuerberaterin. Sie nahm es ihm nicht übel, ganz im Gegenteil, es war eine Erleichterung gewesen. Bilder stiegen vor ihrem geistigen Auge auf, von Abenden voller langer Gespräche mit David auf ihrem Sofa, auf der Terrasse, im Bett, wenn sie in zerknüllten Laken aneinandergeschmiegt noch lange wach gelegen hatten, redeten und lachten, philosophierten und träumten. Der Schmerz über den Verlust ihres Geliebten, der auch ein Seelenverwandter gewesen war, brach ihr fast das Herz.
Reiß dich zusammen, verdammt, schalt sie sich erneut und verdrängte die so schönen wie grausamen Erinnerungen in die Tiefen ihres Gedächtnisses. Sie blinzelte, um die Tränen zu verscheuchen, die sich in ihren Augen sammelten. Dieses Bein war genau das, was sie jetzt brauchte. Es würde Tage, wenn nicht Wochen dauern, den paar Knochen, die sie hatte, alle darin versteckten Informationen zu entlocken. Entschlossen zog sie die Bahre heraus und schob sie in den kleinen Obduktionssaal. Es war schon spät am Tag, die meisten Mitarbeiter des Instituts waren längst gegangen, so bereitete Magda selbst alles für die Obduktion vor, legte sich die Instrumente zurecht, schaltete den Kassettenrekorder ein und begann mit der äußerlichen Untersuchung.
»Linkes Bein … im oberen Drittel des Oberschenkels abgetrennt –
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