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Reinen Herzens

Reinen Herzens

Titel: Reinen Herzens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helena Reich
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Vielleicht lag es nur daran, dass sie Trost nicht ertragen konnte. Es gab keinen Trost. Sie musste mit der Zeit alleine damit fertig werden. Wobei alleine natürlich nicht stimmte. Ihre Freunde kümmerten sich rührend um sie. Dafür war sie einerseits dankbar, andererseits fand sie ihre Bemühungen anstrengend. Sie wollte nicht ständig erinnert werden, die Erinnerung sprang sie ohnehin aus jeder Ecke an. So gut sie konnte, versuchte sie, nicht ständig über das nachzudenken, was geschehen war und über das, was hätte sein können, wenn David nicht erschossen worden wäre. Wenn das Wörtchen wär nicht wär … Ihre Gedanken begannen wieder, in diesen beängstigenden Bahnen zu kreisen. Wenn sie auf dem Weg vom Flughafen nicht solch ein Feigling gewesen wäre, als er begonnen hatte, ihr von einem Problem zu erzählen, das er mit ihr besprechen müsse, wenn sie nur nicht gesagt hätte, lass uns zu dir fahren, damit ich jederzeit gehen kann, wenn es unangenehm wird, wenn sie zu ihr gefahren wären, wenn vor seinem Haus kein Parkplatz gewesen wäre … Schluss damit! Mit aller Kraft drängte sie die kreisenden Gedanken zurück. Kein Wenn und kein Wäre würden mehr etwas daran ändern: David war tot. Tot, tot, tot . Egal wie oft sie es wiederholte, sie konnte es noch immer nicht fassen. Vielleicht nie. Hier im Institut hatte sie die Ablenkung, die sie im Moment so dringend brauchte wie die Luft zum Atmen. Sie durfte nicht darüber nachdenken. Ihre Erinnerung an den Abend war verschwommen, nichts als dunkler Nebel, irgendwelche Geräusche, die sie nicht zuordnen konnte, Fetzen von Bildern, die keinen Sinn ergaben. Bevor sie im Krankenhaus aufgewacht war, hatte sie geträumt, irgendetwas Beängstigendes, das sich immer wiederholt hatte wie eine verkratzte Platte, bis Otakar Nebeskýs Stimme sie herausgeholt hatte aus dem irren Karussell. Der Schock über das, was er ihr gesagt hatte, hatte alle Erinnerung an diese Albträume verwischt. »Vielleicht kommt Ihre Erinnerung wieder«, hatte der Arzt im Krankenhaus ihr gesagt, »denken Sie nicht darüber nach, dann klappt es vielleicht, es braucht Zeit.«
    Der fremde Mann, der zu ihr gekommen war, nachdem Otakar gegangen war, hatte das Gegenteil verlangt, als er sie befragt hatte: »Denken Sie nach, Frau Doktor, was ist passiert, bevor Sie das Bewusstsein verloren haben? Erinnern Sie sich! Was haben Sie gesehen? Wen haben Sie gesehen? Was haben Sie gehört?«
    Ihre Antwort war immer dieselbe gewesen: »Ich weiß es nicht.« Die Fragen machten sie verrückt. Je mehr sie versuchte, sich zu erinnern, desto schwärzer wurde das Nichts, in das sie blickte. Sie sind die einzige Zeugin, Frau Doktor, hatte der blonde Mann sie beschworen, wenn Sie sich nicht erinnern können, wird der Fall nie aufgeklärt werden. Erinnern Sie sich! Irgendwann hatte sie ihn, halb wahnsinnig vor Schmerz und Verzweiflung angeschrien, er solle sie endlich in Ruhe lassen und zum Teufel gehen. Er war gegangen – mit dem Hinweis, er würde wiederkommen. Am nächsten Mittag war Larissa im Krankenhaus erschienen und hatte sie nach Hause gebracht. Wer war der Typ überhaupt gewesen, fragte sie sich jetzt. Sie hatte nicht genau hingehört, als er sich vorgestellt hatte. An seinen Namen konnte sie sich jedenfalls nicht erinnern. Egal, sie würde Ota bei Gelegenheit danach fragen.
    Ablenkung war das Einzige, das ihr derzeit helfen konnte. Sie rümpfte die Nase. Der Geruch war unerträglich. Sie stutzte. Seit wann störten sie die Gerüche, die sie umgaben, so sehr? Zugegeben, manchmal war der Gestank bei ihrer Arbeit ziemlich grässlich, aber im Allgemeinen war sie kein olfaktorischer Mensch, bemerkte Gerüche eher selten und nur, wenn sie ganz besonders angenehm oder unangenehm waren. Sie roch nicht mehr oder weniger als der Durchschnitt, aber jetzt fiel ihr diese Veränderung auf. Sie schlug zögernd das Tuch über das Bein. Der Geruch war immer noch da, weniger zwar, aber da. So etwas war ihr bisher nie in so einem Maße aufgefallen. Sie schob das Kühlfach zu. Der Geruch war weg. Jetzt roch es nur noch nach Putz- und Desinfektionsmitteln und dem alles untermalenden latenten Dunst der Verwesung. Diesen Geruch hatte sie hier noch nie bewusst wahrgenommen. Wann hat das angefangen?, überlegte sie verwundert. Heute früh hatte sie sich einen grünen Tee gemacht, nachdem sie die Kaffeedose nach dem Öffnen gleich wieder geschlossen hatte – der Duft des Kaffeepulvers war ihr zu stark gewesen so früh am Morgen

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