Reinen Herzens
Zukunftsmusik, was unser Institut betrifft.« Sie sollten beide nicht mehr hier sein, dachte er, aber offenbar hatte sie so wenig Verlangen nach einem einsamen Abend wie er. Er würde sie hier herauslotsen – direkt in das kleine italienische Lokal, das er vor ein paar Wochen entdeckt hatte. Er hatte zwar keinen Hunger, aber essen musste der Mensch, auch wenn die Welt außen rum in Scherben lag und die Kameraden im Kampf für das Gute tot vom Pferd fielen. Vielleicht würden sie sich auch einfach mit einer Flasche Wein begnügen. Damit konnte man sich den Schmerz auch vom Leibe halten.
»Hm, schon, aber ich kenne eine Kollegin in München, die sind dort dabei, eine entsprechende Datenbank aufzubauen – vielleicht könnte sie helfen.«
»Das wird teuer.« Der Satz überraschte ihn selbst. Nie hätte er gedacht, dass er ihn mal äußern würde. Aber kaum war er ein paar Tage lang rechtmäßiger, verantwortlicher Chef, schon dachte er in Zahlen, statt in Schicksalen. Knauserigkeit war sonst keine seiner Eigenschaften, ganz im Gegenteil, er war im Grunde seines Herzens ein großzügiger Mensch. Noch letzte Woche hätte er – als nur vertretungsweiser Institutsleiter – mit Begeisterung jeden neuen Test ausprobiert, egal, was er gekostet hätte, doch nach seiner eingehenden Beschäftigung mit den Institutsfinanzen in den letzten Tagen hatte er das Bedürfnis, das bisschen Geld, das dem Institut zustand, zusammenzuhalten. Aber Magdas Ehrgeiz und Wissensdurst waren ansteckend. Vielleicht gab das Budget es ja doch her. »Du kannst ja mal nachfragen. Das kostet nichts.« Er grinste.
Sie lächelte zufrieden. »Klar. Nur fragen.« Sie beschäftigte sich weiter mit dem Bein und dem Sammeln von Proben.
Jirka beobachtete sie interessiert. Sie sah erschöpft aus. Tiefe Schatten lagen unter den ausdrucksvollen eisgrauen Augen, blass war sie auch – trotz des Make-ups. Sie war erstaunlich gefasst, aber er war sich sicher, dass es in ihrem Inneren ganz anders aussah. Nach Hause zog es sie jedenfalls nicht. Jirka konnte es verstehen, auch ihm machte der Tod seines besten Freundes zu schaffen, und er bemühte sich nach Kräften, nicht ständig darüber nachzudenken. Die Fähigkeit zum Verdrängen war eine hilfreiche menschliche Eigenschaft, von der Jirka, wenn nötig, eine ganze Menge mobilisieren konnte. Das ganze Ausmaß der Tragödie würde spätestens bei der Beerdigung über sie alle hereinbrechen. Wann das sein würde, stand allerdings in den Sternen, denn die Leiche war aus irgendwelchen Gründen, die niemand im Militärkrankenhaus bereit war zu erklären, noch immer nicht freigegeben worden. Bis dahin tat er nach Möglichkeit so, als wäre das alles nicht wahr. Er konnte es schlicht noch immer nicht fassen, dass David nie wieder mit seinem spöttischen Lächeln durch seine Bürotür kommen würde, um über irgendeinen sinnlosen Tod eines armen Menschen zu reden, den sie beide zu bearbeiten hatten; dass sie nie wieder freundschaftlich streitend auf der Tribüne des Eissportstadions sitzen und mit einem Bier in der Hand einem Eishockeyspiel folgen würden; dass David ihn nie wieder mit seinen Frauengeschichten aufziehen würde; dass … Lass es, verdammt, er ist und bleibt tot. Er warf einen Blick auf die Uhr. Kurz nach neun. Zeit, von hier zu verschwinden.
»Wie wär’s, du beendest diese Ersatzhandlung für heute, und wir gehen noch etwas essen?«, fragte er. Er wusste, dass er auf unsicherem Terrain operierte. Vielleicht hätte er nicht Ersatzhandlung sagen sollen. Vielleicht hätte er überhaupt nichts sagen sollen. Wahrscheinlich hätte er gar nicht erst in diesen kleinen Sektionssaal kommen sollen.
Ertappt sah sie auf und lächelte dann schief. »Nenne es meinetwegen eine Ersatzhandlung. Ehrlich gesagt, hast du sogar recht.« Sie strich sich mit dem Unterarm über die Stirn. »Aber es schadet trotzdem nicht, wenn wir herausfinden, wer das hier war.« Sie begann, vorsichtig das halb verweste Fleisch von den Knochen zu lösen. »Hast du noch zu tun oder hilfst du mir?« Sie ignorierte seine Frage bewusst. Sie hatte keinen Hunger, Appetit schon gar nicht. Sie würde sowieso nichts runterkriegen. Der Duft seines Parfüms kitzelte in ihrer Nase. Ein ausgesprochen angenehmer Duft, der ihr ein behagliches Kribbeln im Bauch verursachte. Sie kannte diesen Duft … natürlich, es war auch Davids Parfüm. Das war ihr bisher nie aufgefallen. Hoffentlich geht das wieder weg, dachte sie irritiert. Sie mochte Jirka, aber sie
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