Reinen Herzens
und auf leeren Magen. Und gestern Nacht, nachdem alle gegangen waren und sie erstaunlicherweise plötzlich Hunger gehabt hatte, hatte sie den Kühlschrank geöffnet und war fast erschlagen worden von dem Mischmasch an Gerüchen, der ihr daraus entgegengekommen war. Dabei war der Kühlschrank praktisch leer gewesen, außer ein paar Gläsern Marmelade, einer Flasche Ketchup und einer Tube Senf. Schließlich war sie sechs Wochen fort gewesen und hatte vorher dafür gesorgt, dass ihr Kühlschrank in ihrer Abwesenheit nicht zu einem Züchtungslabor für Schimmelpilze wurde. Und seit sie aus dem Krankenhaus zurück war, hatte sie nur im Ráj gegessen – wenn überhaupt. Die Gerüche im Kühlschrank waren nichts als die Geister seines früheren Inhalts – ein Hauch von Schinken, ein bisschen Parmesan, Suppengemüse, Kräuter, etwas Räucherlachs, Salat und Stangensellerie. Was sie in der Regel eben immer im Kühlschrank hatte. Angewidert hatte sie auch den spärlichen Rest des Inhalts weggeworfen und anschließend den Kühlschrank gründlich geputzt. Über ihren veränderten Geruchssinn hatte sie dabei nicht weiter nachgedacht. Sie drehte in Gedanken die Zeit noch weiter zurück. – Wann hatte das angefangen? Vorgestern Morgen im Aufzug, auf dem Weg zur Arbeit, hatte sie überdeutlich irgendjemandes Parfüm gerochen. Glücklicherweise war es ein angenehmes. Sie hatte es in letzter Zeit schon mal irgendwo bemerkt. Natürlich, die Ärztin im Krankenhaus … Als Otas Stimme sie aus ihrem von Albträumen geplagten Schlaf geweckt hatte, hatte sie zum ersten Mal so intensiv einen Geruch wahrgenommen. Sie hatte eingeatmet und gewusst, dass sie im Krankenhaus war, dieser penetrante Geruch hatte ihre Angst verstärkt. Sie konnte sich nicht erinnern, dass sie ihn jemals so deutlich wahrgenommen hatte. Schließlich hatte sie lange in Krankenhäusern gearbeitet, dieser Geruch war für sie so normal, dass sie ihn schon sehr lange nicht mehr wahrnahm. Sie schüttelte irritiert den Kopf, wahrscheinlich war sie nur hoffnungslos übermüdet und dadurch überempfindlich. Ein Bild erschien vor ihrem geistigen Auge … sie kniete neben David … der strenge metallische Geruch von Blut und – ja, von Schießpulver stieg ihr in die Nase und verursachte ihr leichte Übelkeit … sie schlug mit der geballten Faust auf sein Brustbein, stemmte sich dann mit beiden Händen darauf, um seinen Brustkorb herunterzudrücken … einmal, zweimal, dreimal … knirschender Schnee hinter ihr … und ein neuer Geruch … Sie stutzte. Es war ein Geruch gewesen, den sie kannte: scharf, stechend, dabei seltsam süßlich, fast ein bisschen modrig … Schweiß, schoss es ihr durch den Kopf. Ja, sie hatte Schweiß gerochen, den stechenden Geruch von Schweiß – Angstschweiß. Natürlich, sie hatte Angst gehabt – aber da war noch ein anderer Geruch gewesen. Es war etwas, das sie an ihre Großmutter erinnerte, etwas, das sie schon sehr lange nicht mehr gerochen hatte. Alte Kleider, dicke Mäntel fielen ihr ein, ein Geruch, der mit dem Herbst und dem Winter zusammenhing – Mottenkugeln. Genau genommen Naphthalin. Aber da war noch etwas gewesen, noch ein Geruch, den sie kannte – sie kam nicht darauf. Sie hatte das alles nur für den Bruchteil einer Sekunde wahrgenommen, dann hatte sie diesen splitternden Schmerz gespürt und war in das dunkle Nichts getaucht. Sie schwankte und hielt sich am Griff des Kühlfachs fest, um nicht umzufallen, schloss die Augen und lehnte sich mit der Stirn an das kühle Metall, atmete tief durch. Du spinnst, sagte sie sich, hör auf mit dem Unsinn! Das ist nichts als Einbildung, du bist müde, verzweifelt und überempfindlich. Sie richtete sich wieder auf, öffnete die Augen und wartete einen Moment, bis der Schwindel nachließ. Hysterische Gans, schalt sie sich verärgert. Ihre Hände umklammerten noch immer den Griff. Sie konzentrierte sich auf ihren Atem. Einatmen und ausatmen, einatmen und ausatmen. Das geht vorbei, dachte sie, irgendwann. Nr. 4 stand auf dem Schild über dem Griff. Sie war hier, um einen ungelösten Fall zu bearbeiten, nicht, um sich Hirngespinsten über ihren Geruchssinn hinzugeben. Das würde sich schon wieder normalisieren, man durfte seinen Einbildungen nur nicht nachgeben. Entschlossen öffnete sie das Kühlfach wieder und schlug das Tuch zurück. Noch mal von vorn, dachte sie, und ignoriere deine hysterische Nase!
Es war nur ein Bein. Was konnte sie schon herausfinden über diesen Menschen, diese
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