Reinen Herzens
schwarze Schatten des Alten und die kaum mehr sichtbaren, verwischten Spuren im Schnee verrieten, dass der Mann und sein Rabe keine Gespenster waren. Ein Hexer mit seinem gefiederten Diener, schoss es dem Jäger durch den Kopf. Jedenfalls war es nicht das, was er erwartet hatte. Er ließ langsam sein Fernglas sinken. Er hatte den Mann mit seinem Raben schon gelegentlich nachts im Wald gesehen, das erste Mal vor vielen Jahren, als er als Junge eine Nacht alleine im Wald verbracht hatte – eine Mutprobe, die er angesichts dieses geisterhaften Mannes damals fast abgebrochen hatte. Ob es wirklich der gleiche Mann war wie damals? Es war schon mehr als vierzig Jahre her, vielleicht schon fast fünfzig, und der Mann hatte auch damals bereits dieses silberne Haar gehabt. Er hatte bis heute keine Ahnung, wer der Alte war und wo er lebte. Unglaublich eigentlich, da er so gut wie alle Leute kannte, die hier in der Gegend lebten und regelmäßig in seinem Wald unterwegs waren. Tagsüber war er ihm noch nie begegnet. Er wusste selbst nicht, warum er ihn nie angesprochen hatte. Er wusste nicht einmal, ob der Alte ihn auch je gesehen hatte. Als die beiden näher kamen, hörte er den alten Mann leise sprechen – und zu seiner Überraschung schien der Rabe zu antworten. Wortfetzen schwebten zu ihm unter den Hochsitz. Erst konnte er nichts verstehen, doch als der Alte fast den Jägerstand erreicht hatte, wurden aus dem Gemurmel Wörter, die der Jäger als Deutsch identifizierte: Braver Jung … zurück … nicht mehr weit … Dazwischen krähte der Rabe halblaut etwas, das sich wie eine Wiederholung der Worte seines Herrn anhörte. Ein heiseres Echo des gemurmelten Monologs. Während die beiden am Hochsitz vorbeigingen, wandte der Rabe den Kopf und sah hinüber zum Dickicht. Er schien einen Moment wie überrascht innezuhalten. Er sieht mich, dachte der Mann erstaunt. Der Rabe krähte laut und flatterte, als wollte er seinen Herrn auf den versteckten Fremden aufmerksam machen. Der Alte hielt einen Moment irritiert inne, seine Augen schweiften über den Waldrand und zurück über die Lichtung. Was hast du denn, mein Junge , fragte er mit einer rauen Stimme. Der Rabe krächzte eine unverständliche Antwort, der Alte schüttelte den Kopf und strich dem Raben mit einer knorrigen, weißen Hand über das Gefieder. Nein, mein Freund, wir sind allein, hier ist nie jemand, nie . Dann setzte er seinen Weg fort. Niemals , wiederholte der Rabe heiser. Einen Moment später waren die beiden im Wald verschwunden, als seien sie nur eine Fata Morgana gewesen. Der Jäger schüttelte verwundert den Kopf. Er lächelte. Solo Lovec, der anonyme Autor des Büchleins, hatte tatsächlich recht, man war nie allein. Niemals. Nirgendwo.
Im nächsten Moment hörte er rechts von der Lichtung auf dem schmalen Feldweg, der zum See führte, das leise Motorengeräusch eines Autos, das näher kam. Er verstaute sein Fernglas und griff entschlossen nach seinem Gewehr. Verfluchte Jagdzeit.
10
Porážka. Kategorie nepovedeného života.
Niederlage. Kategorie eines misslungenen Lebens.
Ein letztes dumpfes Gluckern stieg aus dem schwarzen See auf. Er beobachtete die großen Blasen, die an der Oberfläche aufplatzten, die großen ringförmigen Wellen, die sich ausbreiteten und in die Dunkelheit des weiten Wassers verliefen. Durch einen Spalt in den Wolken am Nachthimmel schien der Mond, in dessen schwachem Schein der unberührte Schnee glitzerte. Es schneite stark. Große, flauschige Schneeflocken legten sich auf die frischen Reifenspuren, die vom schmalen Waldweg direkt in den See führten. »Die Teufel feiern Hochzeit.« Das hatte sein Großvater immer gesagt, wenn es so geschneit hatte. Gut. Wenn es derart weiterschneite, wären alle Spuren bis zum Morgen verschwunden. Es war ohnehin eine einsame Stelle, kein Mensch kam zu dieser Jahreszeit hier vorbei. Selbst tagsüber nicht, geschweige denn nachts.
Trotzdem – dieser Auftrag war nicht nach Plan gegangen. Er konnte nur hoffen, dass er die Sache halbwegs gerettet hatte. Allerdings war »halbwegs« in diesem Fall schon eine mittlere Katastrophe. Er wischte sich mit der Hand die Schneeflocken vom Gesicht. Er war perfekt vorbereitet gewesen – hatte er gedacht. Aber wer zum Teufel hätte ahnen können, dass ihm dieser Typ in die Quere kommen würde? Wie wahrscheinlich war es, dass sich das Opfer als Möchte-gern-Mörderin herausstellt? Abgesehen von seinem Job hatte er zusätzlich noch den ihren erledigen müssen.
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