Reinen Herzens
Licht fiel an einer Stelle durch das Dickicht, sodass er ganz gut lesen konnte. Nejsi sám, NIKDY , stand oben auf der Seite, die er mit einem Eselsohr markiert hatte. Du bist nicht allein, NIE . Er wünschte, es wäre wahr. Eine erste, dicke Schneeflocke landete sanft auf der Seite. Er pustete sie weg und verzog das Gesicht zu einem ironischen Grinsen. Von wegen. Noch nie hatte er sich so allein gefühlt wie in den vergangenen Monaten, seit er sich auf diese spezielle Art der Jagd eingelassen hatte. Er war mit Leib und Seele Jäger, verstand sich als Hüter und Beschützer des Waldes, nur deshalb tat er es. Die Ausbeute dieser Jagdausflüge war immer nur ein schlechtes Gewissen gepaart mit einem reinen Herzen. Aber er hatte einen Weg gefunden, sein Gewissen zu beruhigen. Gelegentlich brachte er von diesen Jagdausflügen immerhin auch einen Hasen mit nach Hause, doch heute würden die Tiere in ihren Verstecken bleiben. Es schneite zunehmend. Immer mehr große glitzernde Flocken rieselten aus den schwarzen Wolken am Himmel. Die Lichtung lag leer und einsam vor ihm. Gänzlich unberührt von jedweden Spuren. Die Schneeflocken tanzten wie Feen über der ebenen Fläche, bevor sie mit ihr verschmolzen. Für den fiktiven Autor des seltsamen Tagebuchs, das er las, traf diese Aussage allerdings zu – immerhin bewegte der sich durch das Großstadtgewirr Berlins und Prags. An solchen Orten war man wohl tatsächlich nie allein. Aber unter Umständen umso einsamer. Er selbst war hier im Wald – und im Grunde auch in seinem Leben – beides zugleich: allein und einsam dazu. Einen Moment lang fragte er sich, ob er nicht doch einfach aufhören sollte mit seiner Jagd. Warum tat er sich das an? Er hatte es schon ein halbes Dutzend Mal getan – und nichts war geschehen. Nein, das stimmte nicht. Die Presse war inzwischen darauf angesprungen. Die Stadt wimmelte von Journalisten. Aber nun hatte ihn auch der Inspektor im Visier. Der Polizist würde ihm nichts tun, aber der Schlägertrupp seines feinen Schwagers stand sicher schon abrufbereit. Jedenfalls hatte er die Worte des Inspektors so interpretiert. Was würden sie mit ihm anstellen? Er wollte es sich lieber nicht ausmalen. Aber er konnte nicht aufhören, er wollte seinen Wald von diesem Abschaum befreien – egal mit welchen Mitteln. Es war doch so, dass der Zweck die Mittel heiligte – jedenfalls war das in diesem Fall seine tiefe Überzeugung. Es gefiel ihm zwar nicht, und es war ungesetzlich, aber was hieß das schon? Mit seinem schlechten Gewissen konnte er zur Not leben, er wusste, er handelte für einen guten Zweck. Und das Gesetz? Nun, darum scherte sich ohnehin kaum jemand. Der Inspektor und seine Sippschaft jedenfalls sicher nicht. Und ihr Auftraggeber ebenso wenig. Was er tat, war zwar vor dem Gesetz keinen Deut besser, aber irgendwie diente es doch einer gewissen Gerechtigkeit. Glaubte er wenigstens.
Ein lautes, heiseres Krähen irgendwo über den Gipfeln der dick mit Schnee bedeckten Tannen ließ ihn erschrocken auffahren. Er klappte das Buch zu und sah in den Himmel. Zwischen den Schneeflocken zog ein schwarzer Schatten Kreise über der Lichtung. Irgendein Vogel. Keine Eule, soweit er das aus dieser Entfernung und bei diesem Wetter beurteilen konnte. Seine Augen waren trotz der Brille auch nicht mehr das, was sie mal waren. Kurz darauf hörte er ein weiteres, ähnliches Krächzen, diesmal aus dem Wald auf der ihm gegenüberliegenden Seite. Einen Moment später löste sich eine schwarze Gestalt aus dem Dunkel der Bäume und trat auf die noch immer mondbeschienene Lichtung. Aha, es ist doch Leben in diesem gottverlassenen Wald, dachte er und duckte sich instinktiv hinter den Baumstamm in das Dickicht. So leise wie möglich verstaute er sein Büchlein und kramte sein kleines Fernglas aus seiner Anoraktasche hervor. Der Satz, den er erst vor ein paar Minuten gelesen hatte, galt also auch hier. Er hielt das Fernglas an seine Augen und suchte die Gestalt. Es war ein alter Mann, groß und hager, mit einem dichten weißen Haarschopf, der im Mondlicht wie Silber schimmerte. Sekunden später landete ein Vogel geschickt auf der Schulter des Mannes. Es war ein Prachtexemplar von einem Raben. Der alte Mann spazierte langsam mit dem schwarzen Vogel auf der Schulter durch den tiefen Schnee über die Lichtung. Die gleitende und lautlose Bewegung des alten Mannes hatte etwas Gespenstisches. Sein bodenlanger schwarzer Umhang glitt wie eine schwere Schleppe hinter ihm her. Nur der
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