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Reinen Herzens

Reinen Herzens

Titel: Reinen Herzens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helena Reich
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zufrieden.
    Es schneite immer noch. Die Radspuren waren fast nicht mehr zu sehen. Er gestattete es sich, aufzuatmen. Fast wäre es diesmal schiefgegangen. Aber er hatte die Kurve noch gekriegt. Improvisation war eine seiner Stärken. Das Schicksal war ihm wohlgesonnen – wie immer. Den einzigen Zeugen hatte er beseitigt, und um die andere Frau brauchte er sich keine Sorgen zu machen. Sie hatte ihn nicht gesehen, hatte nur Augen für den toten Typen gehabt. Er hoffte, dass er sie nicht getötet hatte. Nicht mehr Leichen als unumgänglich notwendig – das war sein Motto. Bei dem Typen war es etwas anderes gewesen, der hatte in seine Richtung gesehen – einen Moment lang hatten sich ihre Blicke getroffen. Aber wer nichts bezeugen konnte, dessen Schicksal brauchte man auch nicht auf sein Gewissen zu laden. Sie würde sich an nichts erinnern, nicht mal an die tote Frau. In deren Richtung hatte sie gar nicht geschaut. Blieb nur der Mann, der versucht hatte, seine Flucht zu vereiteln. Hatte der Typ sein Gesicht gesehen? Vermutlich ebenso wenig, wie er dessen Gesicht gesehen hatte. Unerkannt zu bleiben, war sein wichtigstes Kapital. Das und seine Munition. Die immerhin würde dafür sorgen, dass sie ihm nicht auf die Schliche kommen würden. Es hatte sich gelohnt, in diese ausgefallene Spielerei zu investieren. Recherche, Wissen und handwerkliches Können zahlten sich eben immer wieder aus. Er war ein begnadeter Heimwerker. Niemand würde je feststellen können, mit welcher Waffe auf den Typen geschossen worden war. Keine Beweise. Das Einzige, das wirklich glattgegangen war an jenem Abend. Sein Auftraggeber würde trotzdem nicht begeistert sein. Er hatte seinen Auftrag zwar ausgeführt und keine lebenden Zeugen hinterlassen, dafür aber einen sehr unaufgeräumten Tatort. Er überlegte, ob er dem Zorn seines Auftraggebers nicht irgendwie entkommen konnte. Plötzlich lächelte er, ein Grundsatz seines Großvaters selig war ihm eingefallen: »Alles, was man sagt, sollte wahr sein«, hatte der alte Herr ihm immer wieder eingeschärft, und dann schmunzelnd hinzugefügt: »Aber nicht alles, was wahr ist, muss man auch sagen.« Er würde den kleinen Patzer einfach für sich behalten. Was sein Auftraggeber nicht wusste, konnte ihn auch nicht verärgern. Wer sagte denn, dass er die Frau nicht vor ihrer Wohnung erschossen hatte? Es gab ja keine Zeugen. Und was dort an der Ecke geschehen war – nun, kein Gesetz der Welt besagte, dass es nicht an einem Abend zwei Schießereien geben konnte. In einer friedlichen Stadt wie Prag war das zwar ziemlich unwahrscheinlich, aber nicht unmöglich. Er atmete tief durch. Alles war gut. Nur das zählte letztendlich.
    Er griff an seine Schulter, um seine Handschuhe aus dem Rucksack zu holen. Ihm war eiskalt. Seine Jacke war zu dünn für dieses verdammte Wetter, und er hatte seine Kleidung durchgeschwitzt. Er zog die Handschuhe über seine eisigen Hände. Irgendwo links von ihm knackten Zweige im Unterholz und schreckten ihn aus seinen Gedanken auf. Er sah sich um. Wahrscheinlich nur ein hungriger Fuchs, dachte er nervös. Der Wald hinter ihm wirkte schwarz und undurchdringlich wie eine Wand. Er blickte in den wolkenverhangenen Himmel, aus dem noch immer Schnee rieselte. Ein Vogel flatterte auf, zog einen kleinen Kreis und verschwand wieder in den hohen Baumwipfeln. Er hörte ein heiseres Krächzen. Eine Krähe. Erstaunlich, dass so ein Vieh bei diesem Wetter unterwegs war.
    Er warf einen letzten Blick auf den stillen See. »Ruhe in Frieden«, sagte er mit einer kleinen Verbeugung und lachte erleichtert auf. »Amen«, schickte er noch hinterher. Dann zog er die Schultern hoch und machte sich auf den Weg durch den verschneiten Wald zurück in die Zivilisation.
    Als die Stille des Waldes die knarzenden Schritte des Mannes verschluckt hatte, löste sich ein Schatten aus dem Unterholz und trat an das Ufer des dunklen Sees.
    »Und was hast du hier in der alten Karre versenkt, Junge?«, murmelte der Jäger leise. Es gefiel ihm gar nicht, wenn in seinem Wald Müll entsorgt wurde und ein altes Auto war nichts anderes als besonders sperriger Müll. Aber das hier hatte nach etwas Sinisterem ausgesehen. Amen , hatte der Kerl gesagt. Ruhe in Frieden . Warum, so fragte sich der einsame Jäger, war der Mann so weit gefahren, um ein altes Auto in diesem See zu versenken? Im Schein des Mondes hatte das Kennzeichen des Wagens aufgeblitzt – er hatte es nicht ganz lesen können, aber immerhin den ersten

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