Reinen Herzens
von Cheb. Der war sogar mit Goethe befreundet. Wird deswegen auch Goethes Henker genannt.« Blanka Horáková lächelte. »Er hieß Karl Huss und war nicht nur Henker, sondern auch Heiler und mit allerlei wichtigen Leuten befreundet. Es kam ja damals alle Welt in diese Gegend zur Kur.«
»Ach, und gewohnt hat dieser Henker Huss wohl hier, oder?«
»Weil die Pension Zum Henker heißt, meinen Sie?« Die Wirtin lachte. »Nein, das Scharfrichterhaus war am Mühlentor unterhalb der Burg am Fluss. Aber dort werden Sie nichts mehr finden. Heute ist dort ein Stausee.«
Larissa seufzte. »So ein Pech. Schade, aber ich könnte mir ohnehin nicht alles ansehen, weil ich leider nicht zu meinem Vergnügen hier bin. Keine Zeit, die Touristin zu spielen. Ich bin Journalistin und muss mit einem Artikel nach Prag zurückkommen.«
»Machen Sie doch zwei draus und berichten Sie auch über die Sehenswürdigkeiten hier. Es gibt eine ganze Menge davon. Sie könnten zum Beispiel nach Franzensbad fahren, das sind nur sieben Kilometer. Es ist ein wunderschöner kleiner Kurort, alle Häuser sind gelb-weiß – das sieht im Winter mit dem vielen Schnee besonders bezaubernd aus. In der Nähe gibt es auch eine Burg. Seeberg heißt sie. Auch sehr hübsch. Es gibt ein ganz gutes Restaurant dort und ein kleines Museum. Oder die Burg Valdštejn – die haben eine herrliche Ritterstube und kochen ausgezeichnet.«
»Es gibt wohl ziemlich viele Burgen hier?«
»Doch, kann man sagen, so um die achtzehn hier im Kreis, wenn mich nicht alles täuscht, aber manche sind nur noch Ruinen, von denen kaum etwas übrig ist.«
»Ich sehe schon, ich bin wegen des falschen Themas hier. Aber leider schreibe ich nicht für das Reise-Ressort, sondern für die Nachrichtenredaktion.«
»Weswegen sind Sie denn hier? Wegen der zusammengeschlagenen Typen im Straßengraben?«
»Nein, das wäre auch besser. Es geht um Prostitution. Und weil das noch nicht scheußlich genug ist, um Kinderprostitution.«
Das freundliche Gesicht der Wirtin verdunkelte sich. »So. Aha. Na, da beneide ich Sie nicht. Trotzdem einen guten Appetit.« Sie nickte Larissa kurz zu und verschwand in Richtung Küche.
Larissa seufzte und widmete sich dem Essen. Es war ausgezeichnet, doch der Gedanke an ihre Arbeit hatte ihr auf den Appetit geschlagen. Um ihn sich nicht vollends verderben zu lassen, schlug sie den Reiseführer wieder auf und suchte nach dem Schloss Kynžvart, das die Wirtin als Erstes erwähnt hatte. Ein ehemaliges Renaissanceschloss, wie sie bald feststellte, dessen letzter privater Eigentümer – in einer ebenso langen wie unübersichtlichen Reihe, die um das Jahr 1000 begonnen hatte – die Familie Metternich gewesen war. Nach dem Zweiten Weltkrieg war es dann verstaatlicht worden. Während seiner Geschichte hatten nicht nur die Besitzer gewechselt, sondern auch die Baustile, da offenbar jeder Schlossherr der Auffassung gewesen war, dem Schloss den Stempel seiner Zeit aufdrücken zu müssen. Die Fotos zeigten jedenfalls keinen Renaissancebau, sondern etwas zwischen Klassizismus und Empire. Hübsch, dachte Larissa, und im Winter sicher malerisch mit dem vielen Schnee. Aber es gab in Tschechien so viele schöne Schlösser, Burgen und Klöster, dass es für einen Artikel nicht reichte, einfach nur einen hübschen Vertreter seiner Art gefunden zu haben, da bräuchte man schon mehr. Ihre Augen wanderten suchend über den Text und blieben an einem Namen hängen: Alexandre Dumas . Larissa hatte als Teenager Die drei Musketiere verschlungen. Aber was hatte Dumas – ob der Ältere oder der Jüngere, war nicht ersichtlich – mit diesem böhmischen Schloss zu tun? Die Aufklärung folgte sogleich: Im Schloss wurde der Nachlass des berühmten französischen Schriftstellers verwahrt. Larissa lächelte. Das wäre doch eine Geschichte – wie war der Nachlass von Dumas nach Westböhmen gelangt? Ja, das wäre viel mehr eine Geschichte nach ihrem Geschmack. So wie diese andere Sache, die die Wirtin vorhin erwähnt hatte. Was war es noch gleich … etwas mit einem Mühlentor … richtig, das Scharfrichterhaus und der letzte Henker der Stadt. Sie blätterte zurück zu den Seiten über Cheb und fand ihn tatsächlich erwähnt: Karl Huss, der letzte Scharfrichter von Cheb und Freund von Goethe. Gestorben war der Mann 1838. Lange her. Was, fragte sich Larissa, hatte man danach mit zum Tode verurteilten Menschen gemacht? Oder hatte man schon damals in dieser Gegend die Todesstrafe abgeschafft? Eher
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