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Reinen Herzens

Reinen Herzens

Titel: Reinen Herzens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helena Reich
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mehr er selbst, nur Träger wechselnder Namen. Anděl war von Agáta Abrhámovás Umsicht beeindruckt, sie hatte wirklich an alles gedacht. Sogar an einen Ausweis. Damit hatte er beim besten Willen nicht gerechnet.
    »Ich musste meinen Sohn einweihen«, erklärte sie. »Er besitzt doch ein Antiquariat, und ich dachte, er könnte vielleicht so etwas in einer seiner zahlreichen Kisten haben. Man stolpert manchmal über die seltsamsten Dinge in Antiquariaten, sogar Geburtsurkunden und Totenscheine. Er hatte tatsächlich ein halbes Dutzend alter Pässe, aber die waren alle längst abgelaufen, und die betreffenden Personen passten auch vom Alter her nicht. Diesen Ausweis hat offenbar jemand im Antiquariat verloren. Bastián sagte, er habe ihn neulich beim Putzen unter dem Kassenpult gefunden. Vermutlich hat ihn jemand beim Bezahlen verloren. Bastián wollte ihn bei der Polizei abgeben, da der Ausweis ja noch gültig ist, aber er hatte es ganz vergessen. Er ist manchmal ziemlich zerstreut, wissen Sie.« Sie warf ihm einen kurzen Blick zu. »Ein glücklicher Zufall.«
    »Meine Großmutter sagte immer, Zufall sei das Pseudonym Gottes. Aber sie war auch eine sehr gläubige Frau.«
    »Und Ambrose Bierce meinte, ein Zufall sei ein unvermeidliches Ereignis, das auf unveränderlichen Naturgesetzen beruht. – Zwischen diesen beiden Einschätzungen liegt ein ganzes Universum. Was meinen Sie denn?«
    Anděl lächelte. »Ich halte es mit Oscar Wilde: Gesegnet seien jene, die nichts zu sagen haben und trotzdem den Mund halten – mit anderen Worten, ich weiß es nicht. Im Moment weiß ich überhaupt nur sehr wenig.« Er steckte den Ausweis in die Innentasche seines Jacketts und setzte die Brille auf. Die Welt um ihn herum verrückte ein wenig, die Konturen wurden etwas weicher. Immerhin, er konnte damit sehen.
    »Sehen Sie überhaupt etwas mit der Brille? Sie gehörte meinem Vater. Sie ist nicht besonders stark.«
    »Ein bisschen unscharf, aber es geht. Ist vielleicht ganz gut so.« Anděl nahm sie wieder ab und sah eine Weile aus dem Fenster. Die verschneiten Bäume glitzerten in der Sonne und warfen lange Schatten über die weißen, unberührten Felder. Er fühlte sich wie in einer zeitlosen Blase gefangen. Nichts als ein Name, ohne Vergangenheit, ohne Zukunft. Und ein schlechtes Gewissen obendrein. Er könnte sie bitten, umzudrehen und ihn zurückzubringen. »Wohin fahren wir eigentlich?«, fragte er stattdessen. Er konnte sich nicht erinnern, jemals durch diese Landschaft gefahren zu sein. Wollte er es wirklich wissen? Spielte es überhaupt eine Rolle? Er hatte aus dem Sanatorium gewollt. Das war gelungen. Weitere Pläne hatte er nicht gemacht. Es war an der Zeit, sich ein paar Gedanken zu machen – und Pläne, wenigstens rudimentäre.
    »Nach Franzensbad.«
    Überrascht sah er sie an. »Nach Franzensbad ? – Ich weiß nicht, ob das eine gute Idee ist – ich meine, ich will natürlich Ihre Reisepläne nicht durcheinanderbringen … Verzeihen Sie, Frau Abrhámová, ich hätte Sie nicht in diese Sache hineinziehen sollen. Lassen Sie mich einfach an irgendeinem Bahnhof raus …« Ausgerechnet Franzensbad … Nur fünfunddreißig Kilometer vom Wohnort desjenigen entfernt, dessen Identität er angenommen hatte. Außerdem wollte er doch nach Eva suchen, und die war irgendwo in Prag. Warum nur hatte er nicht gleich gefragt, wohin sie unterwegs waren? Er hatte sich treiben lassen, zufrieden damit, aus dem Sanatorium zu entkommen. Seit Felix ihm diesen Totenschein unter die Nase gehalten und von dem kurzzeitigen Herzstillstand erzählt hatte, fühlte er sich fremd in seiner Haut. Fremd und unwohl, als steckte er nicht nur in fremden Kleidern, sondern auch in einem fremden Körper. Ein absurder Gedanke. Sein logisches Denken war offensichtlich auch irgendwo auf der Strecke geblieben. Es war an der Zeit, sich zusammenzureißen, statt sich weiter in diesen melancholischen Untiefen des Seins zu verlieren.
    Sie warf ihm einen verwunderten Blick zu. »Sie haben etwas gegen Franzensbad?«
    »Nein. Überhaupt nicht. Es ist nur so, dass es mein Geburtsort ist, und in meiner momentanen Situation, tot, wie ich bin, ist es nicht gerade der Ort, an dem ich mich blicken lassen sollte.« Dass Trojan aus Marienbad war, erwähnte er nicht. Fünfunddreißig Kilometer waren weit genug weg. Hoffentlich.
    »Darüber würde ich mir an Ihrer Stelle keine Sorgen machen, David.« Sie lächelte ihn an. »Sie haben doch nichts dagegen, wenn ich Sie beim Vornamen

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