Reinen Herzens
Arme vor der Brust und sah ihn mit schief gelegtem Kopf einen Moment lang nachdenklich an. »Ich weiß«, erwiderte sie selbstbewusst. »Wieso bist du nicht bei den anderen?« Sie nickte in Richtung Scheune.
»Ich habe mir die Schulter verletzt und lasse es ruhig angehen. Und du? Machst du auch Yoga?«
»Klar. Einen Kampfsport darf ich doch nicht lernen. Oma meint immer noch, das sei nichts für Mädchen.« Der Ton des Mädchens sprach Bände darüber, was sie von der Einschätzung ihrer Großmutter hielt. »Seit wann machst du Yoga?«, fragte sie.
»Eigentlich noch gar nicht. Ist es schwer?«
»Kommt drauf an. Für manche schon.« Sie musterte ihn nachdenklich von oben bis unten. »Kriegst du die Finger auf den Boden?«
Er beugte sich hinunter und gab sich Mühe, den Boden nicht nur mit den Fingern, sondern mit der ganzen Hand zu berühren. In seinen Oberschenkeln zog es wie Hölle. Er hatte lange nicht mehr trainiert. Aber was machte man nicht alles, um vor einem selbstbewussten kleinen Mädchen nicht wie ein unbeweglicher Idiot dazustehen. Er richtete sich betont langsam und gelassen wieder auf, obwohl sein Rücken vor Anstrengung ächzte. »So?«
»Hm. Ganz okay … für einen Mann .« Sie sah ihn immer noch mit diesem nachdenklichen Blick an und fügte dann hinzu: »Ich muss jetzt gehen. Kannst du Valeska sagen, dass ich morgen komme?«
»Klar. Wie heißt du denn?«
Das Mädchen grinste. » Sie weiß, wer ich bin. Nazdar , Martin . Oder Viktor ?« Sie ging an ihm vorbei, streckte die Arme über den Kopf und machte, als sei es das Natürlichste der Welt, einen perfekten Bogengang, drehte sich noch mal kurz um und winkte ihm mit einem glockenhellen Lachen zu. Dann rannte sie los über den Hof und verschwand durch das kleine Hoftor im angrenzenden Wald.
Anděl blieb wie vom Donner gerührt stehen. Woher kannte sie seinen Namen? Sie musste ihn irgendwo gehört haben, dachte er irritiert, anders war das nicht zu erklären. Und was sollte das oder Viktor ? Er ging nachdenklich zurück ins Haus, konnte sich aber keinen Reim darauf machen. Im Gemeinschaftsraum drehte er das Radio an. Es war an der Zeit, wieder in der Wirklichkeit anzukommen. Gerade liefen die Nachrichten.
»… noch eine aktuelle Meldung: Im Amerika-See wurde heute Nachmittag die Leiche einer Frau gefunden. Nach Auskunft der ermittelnden Beamten handelt es sich um eine gewisse Eva Urbanová, wohnhaft in Prag. Die Polizei bittet um sachdienliche Hinweise …«
Er glaubte seinen Ohren nicht zu trauen. Das durfte doch nicht wahr sein – Eva hier … tot ! Der Moderator schwatzte weiter, doch Anděl nahm es nicht mehr wahr. Wie erstarrt ging er zu einem der Sessel und ließ sich hineinfallen. Eva war doch in Prag … Felix hatte gesagt, sie sei vermutlich weggelaufen, er hatte sie nicht am Tatort gesehen … wie konnte sie dann hier sein … tot im See? Er starrte vor sich hin, unfähig zu einem klaren Gedanken. Das Kind, schoss es ihm durch den Kopf. Was war mit dem Kind? Die Schießerei vor seinem Haus war gute zehn Tage her … hatte sie das Kind zur Welt gebracht? War etwas dabei schiefgegangen … das Kind womöglich tot zur Welt gekommen … warum hätte sie hierherkommen sollen … Seine Gedanken kreisten in abstrusen Vermutungen in seinem Kopf herum. Nichts davon ergab einen Sinn.
»Sie haben eine sehr schöne Übungsstunde verpasst, Martin. Wie geht es Ihrer Schulter?«
Er fuhr erschrocken auf. Neben ihm stand Agáta Abrhámová.
»Was ist passiert?«, fragte Agáta besorgt, als sie seinen Gesichtsausdruck bemerkte.
»Kommen Sie auch noch mit?«, fragte Valeska. »Wir wollen noch zu einem kleinen Bummel in die Stadt fahren. Später spielen auch noch die Nachtwächter am Ende der Kolonnade. Mit all dem Schnee ist es abends wunderschön dort.« Sie stutzte. »Sie sehen blass aus, Martin. Ist Ihnen nicht gut?«
»Ja … ich meine nein. Alles in Ordnung.« Er versuchte ein schiefes Lächeln. »Ich habe ein paar Dehnungsübungen gemacht … war wohl ein bisschen zu viel. Ich werde hier bleiben, wenn es Ihnen nichts ausmacht.«
»Natürlich, kein Problem. Und Sie, Agáta?«
Agáta warf Anděl einen kurzen Blick zu und sagte, sie würde auch lieber bleiben. Valeska nickte. »Wenn Sie etwas trinken wollen, bedienen Sie sich. Außer Tee gibt es auch einen kleinen Vorrat Wein. Meine Schwester hat mich bei ihrem letzten Besuch gut eingedeckt. Ich muss mich noch umziehen.«
Agáta wartete, bis Valeska nach oben verschwunden war, dann setzte
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