Reinheit: Chronik der Freiheit - Band I (German Edition)
gibt es weniger Überwachung.“
Ich hatte mir oft meine Gedanken gemacht, wie die reichen Bürger der Europäischen Union leben mögen. Und natürlich hatte man auch so manches Gerücht gehört.
Gläserne Türme, die den Himmel widerspiegelten. Schick gekleidete, glückliche Menschen, die Nahrung im Überfluss haben. Große Gebäude, in denen man Waren erwerben konnte. Und das Geld, das einem jeden Luxus ermöglichen konnte.
Doch im Moment genoss ich dieses weite Land unter meinen Füßen. Ich musste mich ein wenig ausruhen.
„Auf den Boden, sofort!“, schrie der Soldat. Er zielte mit seinem Gewehr auf Serah. Sie hatte die Arme hinter dem Kopf und ihr ganzer Körper zitterte.
Wie ist sie hierhergekommen?
Um sie herum war alles hell erleuchtet. Die Wände, die Decke und der Boden hatten keinerlei Textur. Alles wirkte so, als bestünde es aus glattem, linienlosem Papier.
„Denkst du etwa, du kannst dich der Regierung so leicht widersetzen? Denkst du, du kannst die Welt verändern?“ Der Soldat lachte spöttisch, zielte aber weiterhin auf Serah.
„Ich tue das nicht für mich“, antwortete sie mit zittriger Stimme.
„Sondern?“ Der Soldat sah sie fragend an.
Serah dachte nach.
Für wen kämpfte sie eigentlich?
Was war ihr Ziel? Glaubte sie wirklich, dass sie allein die Regierung stürzen könne?
„Hä? Antworte mir gefälligst! Was zur Hölle soll dein Widerstand bringen?“, fragte der Soldat nochmals nach.
Und dann schossen ihr wieder die Bilder in den Kopf.
Ihr Bruder. Die Blutwolke. Die Entführung der Kinder. Das Niederbrennen der Häuser. Die Le ichen. Der Geruch der Straßen.
Ihre Mutter. Ihr lebloser Körper.
„Serah? Aufwachen.“
Langsam öffnete ich meine Augen. Bloomquvist befand sich direkt vor meinem Gesicht. Er lächelte mich zuversichtlich an.
„Wir sind endlich in Sicherheit.“
Zögerlich sah ich mich um. Alles war weiß. Alles war hell erleuchtet.
„Willkommen in meiner Heimat.“
Bloomquvist sprang aus dem Gleiter heraus. Und als er auf dem Boden aufkam, knirschte es mer kwürdig. Er reichte mir seine Hand.
„Sag bloß, du hast noch nie Schnee gesehen?“
Ich schüttelte den Kopf.
„Dann wird es Zeit!“ Lachend packte er mich an meine r Hand und zog mich aus dem Sitz des Gleiters heraus.
Der Boden fühlte sich merkwürdig weich an. Aber war vor allem kalt.
Ganz in der Nähe, stellte ich fest, befand sich ein kleiner Wald, vor dem eine kleine Hütte stand. Keine dieser hässlichen Häuser, die ich aus dem Getto kannte.
Dieses Haus war auch aus Holz gebaut, aber mit sehr viel mehr Liebe. Das Dach war bedeckt mit Schnee und an den Fenstern befanden sich kleine Vorhänge aus weißem Stoff.
Bloomquvist bemerkte meinen Blick zu dem kle inen Haus. „Ja, dort können wir eine gewisse Zeit Unterkunft finden.“
„Ist das dein Haus?“
„Es ist das Haus meiner Frau und ihrer Kinder.“
Ich sah ihn fragend an.
„Ja, ich habe wichtige Menschen verloren, aber irgendwann gewinnt man auch neue dazu.“ Er sah wehmütig auf den Boden.
Ich konnte seinen Schmerz verstehen und ich hoffte, dass er damit recht behalten wird.
„Hoffentlich stört es dich nicht?“
„Was?“
„Naja, ich kann mir vorstellen, das Vertrauen ein schwieriges Thema für dich ist und dort drin sind zwei vollkommen fremde Menschen. Ist sicher nicht leicht für dich.“
„Das stimmt, aber sie gehören zu dir.“
„Wir unterbrechen das aktuelle Programm für eine entsetzliche Meldung. Am heutigen Tage ist unsere geliebte Präsidentin Catherine Monroe ermordet worden. Sie war auf dem Weg in ein Internierungslager, um eine Gefangene zu begnadigen, doch diese hinterhältige Frau hat die Präsidentin getötet.“
Hinter der betroffen schauenden Nachrichte nsprecherin erschien ein Bild einer Überwachungskamera. Serah war darauf zusehen, wie sie von Bloomquvist durch die Korridore des Lagers gezerrt wurde.
„Aufgrund dieses schweren Verbrechens erklärte der ehemalige Innenminister und Vizepräsident Paul Maximilian diese Frau zur Staatsfeindin. Sie wird ab sofort mit allen verfügbaren Mitteln g esucht. Jeder Bürger, der einen Hinweis hat, wird gebeten sich an die zuständigen Ämter zu wenden.“
Bloomquvist ging voran. Zögerlich betrat ich den hölzernen Boden der Veranda. Dank eines kleinen Daches lag hier kein Schnee. Stattdessen stand unter einem der Fenster eine Sitzbank, die aus dem selben Holz gefertigt war wie
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