Reinlich & kleinlich?! - wie die Deutschen ticken
jemand am verabredeten Tag kommt.
Ansonsten haben wir jedes Zeitgefühl verloren. Nur noch 18 Prozent der Deutschen legen Wert auf Pünktlichkeit, mehr als jedem zweiten sind Verspätungen zwischen 5 und 15 Minuten völlig egal. Das ist zumindest innerhalb Europas ein Tiefstwert. Im Durchschnitt halten vier von zehn Europäern Pünktlichkeit für wichtig. 25 Prozent erwarten gar, dass zum Essen eingeladene Gäste zu früh kommen. [1]
Das praktizieren in der Bundesrepublik, wenn überhaupt, nur Schwiegereltern und der eine oder andere überforderte Mann (Entschuldigung, ab jetzt lasse ich solche zweideutigen Anspielungen, versprochen!). Der Rest erscheint, wann er Lust hat. Lehrer ärgern sich längst nicht mehr, wenn ihre Schüler kleckerweise zum Unterricht eintreffen, und in den meisten Firmen ist es ähnlich, denn dort gilt Gleitzeit. Wer einen Arzt besucht, nimmt sicherheitshalber ein Buch mit, gern Marcel Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit mit seinen mehr als 4000 Seiten. Lediglich Privatversicherten gelingt es hin und wieder, den vereinbarten und den tatsächlichen Arzttermin in Übereinstimmung zu bringen. Liebe Privilegierte, wussten Sie eigentlich, dass es in den meisten Arztpraxen Wartezimmer gibt? Schauen Sie beim nächsten Besuch einfach mal rein und wundern sich bitte nicht über Menschen, die Zahnbürsten und Rasierer mithaben: Man weiß als gesetzlich Versicherter nie, wie lange das dauert.
Das gilt auch für die Bearbeitung von Steuererklärungen, die sich der christlichen Zeitrechnung inzwischen entzogen hat. Meinen Bescheid für 2008 habe ich im Frühjahr 2010 bekommen, und zwar exakt an dem Tag, an dem ich meine Steuerklärung für 2009 abgegeben hatte. Wenn ich überlege, was ich mit den zu viel gezahlten Steuern alles hätte machen können … Allein der Deutsche Aktienindex, kurz Dax, ist in diesem Zeitraum um mehr als 50 Prozent gestiegen. Ich könnte ein reicher Mann sein, wenn das Finanzamt ein einziges Mal pünktlich gewesen wäre.
Aber das sind in Deutschland nicht einmal die Handwerker. Hamburgs neues Wahrzeichen, die Elbphilharmonie, sollte planmäßig im Jahr 2010 fertig sein, inzwischen rechnet man mit 2013. Oder war es 2015? Die Eröffnung des Bahnhofs Stuttgart 21 wird, nach dann gut 30 Jahren Vorbereitungszeit, für Dezember 2019 erwartet, zumindest von der Deutschen Bahn.
Und das sind nur die größten Baustellen.
Wir haben uns inzwischen so sehr mit der Unpünktlichkeit arrangiert, dass ein Gastgeber überrascht wäre, wenn zur Party abends um acht Uhr tatsächlich jemand erschiene. „Beginn 20 Uhr“ bedeutet in der Realität zehn bis elf. Wenn es heißt: „Um 21 Uhr“, erscheinen die Gäste für gewöhnlich zwischen zehn und halb elf. Am besten ist es also, eine Party gleich abends um elf beginnen zu lassen. Dann dürften die meisten pünktlich sein, denn sonst bliebe kaum noch Zeit zum Feiern.
Damit wir uns nicht falsch verstehen: Ich will niemandem, auch den Deutschen nicht, unterstellen, absichtlich unpünktlich zu sein. Wenn ein ganzes Land sich dem Zuspätkommen unterworfen hat, kann der Einzelne dagegen kaum etwas tun. Womit wir bei dem Unternehmen wären, das unsere Urtugend Pünktlichkeit Zug um Zug demontiert hat.
Die Deutsche Bahn wird zwar nicht müde zu behaupten, dass mehr als 90 Prozent ihrer Züge pünktlich sind. Wenn man Fahrplanabweichungen von 5 bis 200 Minuten nicht ignoriert und sich ansonsten nach der mitteleuropäischen Sommerzeit richtet, kommt man jedoch zu anderen Ergebnissen. Ich habe, auch für dieses Buch, im Jahr 2010 damit begonnen, die Verspätungen während meiner Bahnfahrten zu dokumentieren. Nach 50 Fahrten hatte ich keine Lust mehr und meinen Zielbahnhof nur dreimal fahrplanmäßig erreicht – oder wie das in der Bahnsprache so schön heißt.
Wenn Sie sich gefragt haben sollten, warum ich in diesem Jahr so viele Bücher geschrieben habe, wissen Sie jetzt die Antwort: Ich schreibe grundsätzlich nur auf Bahnfahrten. Und die reichen in meinem Fall locker für zwei Sachbücher und einen 300-seitigen Roman. Sollten Sie bisher nur Reinlich & kleinlich?! aus meiner extrem produktiven Bahnfahrerphase erworben haben, wäre jetzt die richtige Zeit, um beispielsweise auf die Amazon-Website zu gehen und … Aber ich will Sie nicht zu Ihrem Glück zwingen .
Wer zu spät bestellt, den bestraft bekanntermaßen sowieso das Lesen, äh, Leben.
Alle reden vom Wetter – Wir nicht.
Bleiben wir beim Thema. Die Älteren unter uns
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