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Reinlich & kleinlich?! - wie die Deutschen ticken

Titel: Reinlich & kleinlich?! - wie die Deutschen ticken Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yannik Mahr
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stellt sich Herr Müller-Hohenstein bei der Post wieder in die Schlangen vor dem Schalter, auch wenn dabei die Mittagspause komplett draufgeht.
    Zu gern würde ich Herrn Müller-Hohenstein einmal vor einem Geldautomaten erleben, aber er beteuert, dass er gar keine EC-Karte habe. Ist vielleicht besser so. Erst neulich habe ich wieder mit einer ansonsten rüstigen Endfünfzigerin gezittert, die in der Bank vor mir stand und bereits zweimal die falsche PIN eingegeben hatte. „Das kann doch nicht sein, ich habe alles richtig gemacht, das gibt es doch nicht!“, murmelte sie, wissend, dass ihr nur noch ein Versuch blieb, bevor die Maschine unbarmherzig die EC-Karte einbehalten würde und sie den Rest des Wochenendes ohne Bargeld überstehen müsste. Sie schickte ein Stoßgebet zum Himmel, ich nickte ihr aufmunternd zu, und mit bebenden Fingern drückte sie ein letztes Mal die Tasten. Die Maschine klang, als würde sie sich erbrechen, gab aber schließlich 150 Euro frei. „Seien Sie bloß vorsichtig“, raunte mir die sichtlich erleichterte Frau zu, „mit dem Automaten stimmt etwas nicht.“
    Dieses Gefühl eint die Deutschen, seit sie ständig damit rechnen müssen, dass sich unter Service- und anderen Telefonnummern nicht mehr Menschen, sondern Maschinen melden. „Wenn Sie eine Frage zu bestehenden Kontoverbindungen haben, sagen Sie Kontoverbindung. Wenn Sie ein Konto eröffnen möchten, sagen Sie Kontoeröffnung. Wenn Sie sich für Geldanlagen interessieren, sagen Sie Geldanlagen. Wenn Sie mit einem unserer Sachbearbeiter verbunden werden wollen …“ Manchmal klappt es, und nach mehreren Warteschleifen, Werbebotschaften und/oder klassischer Musik meldet sich der Mitarbeiter eines Callcenters, das seinen Sitz aus Kostengründen nach Rumänien verlegt hat. Die meisten Anrufer haben zu diesem Zeitpunkt entweder längst vergessen, was sie fragen wollten, oder der rumänische Mitarbeiter, der ursprünglich aus Indien stammt, versteht sie nicht.
    Solche und hunderttausende andere Missgeschicke halten Deutschlands Dienstleister nicht davon ab, die Kundenbeziehungen weiter zu automatisieren. Wer heute bei einer Bank für eine Überweisung oder einen Dauerauftrag allen Ernstes an einen Schalter geht, muss damit rechnen, sofort den Dispo gekündigt zu bekommen. Der in einem anderen Kapitel ausführlich beschriebene Pfandautomat schert sich nicht darum, wenn man ihm geduldig erklärt, dass man die Flasche wirklich in diesem Laden gekauft hat. Und ein großes schwedisches Möbelhaus testet inzwischen Kassen ohne Kassiererinnen. Die Kunden scannen ihre Produkte selbst ein, bevor sie selbst bezahlen und den ganzen Kram selbst zum Auto tragen, um ihn am Ende selbst zu Hause zusammenzubauen.
    Ist das ausgeprägte Do-it-yourself-Bedürfnis der Deutschen der Grund für die um sich greifende Automatenkultur? Bereiten sich die Unternehmen nur auf die Folgen des demografischen Wandels vor, auf Zeiten, in denen es einfach nicht mehr genug Deutsche geben wird, um Kassenschalter zu besetzen? Oder will die Wirtschaft mit Hilfe der Maschinen verhindern, dass der Kunde das machen muss, was er am meisten hasst: sich anstellen und warten?
    Letzteres ist der Bahn gründlich misslungen, und spätestens jetzt verstehen Sie, warum dieses Kapitel erneut mit unserem Lieblingsunternehmen begann. Ich habe nirgendwo sonst so viel Leid, Elend und tiefe Verzweiflung gesehen wie an Fahrkartenautomaten. Dabei haben es die Herren der Deutschen Bahn einmal mehr nur gut gemeint. Denn jahrzehntelang hatten sich die Kunden darüber beklagt, dass der Kauf einer Fahrkarte in den völlig überlaufenen Reisezentren fast so lange dauerte wie die Reise selbst. Doch als der Konzern endlich etwas dagegen tat, war es auch wieder nicht recht.
    Fluchend standen die Menschen nun vor Fahrkartenautomaten, die sie noch weniger verstanden als das Beförderungssystem. Sie druckten sich Fahrpläne aus, wenn sie Tickets benötigt hätten, und Tickets, wenn ein Fahrplan gereicht hätte. Sie nahmen den Beleg für ihre Einzahlung mit, nicht aber den Fahrschein selbst. Sie vergaßen das Wechselgeld, die Bahncard, die Kreditkarte. Das Allerschlimmste war (und ist) aber, allein vor einem Bildschirm zu stehen, den Atem anderer Reisender im Nacken zu spüren und innerhalb weniger Minuten Dutzende von Entscheidungen treffen zu müssen: Abfahrtsbahnhof? Zielbahnhof? Ab sofort? Heute? Morgen? Nur hin? Oder auch zurück? Mit Bahncard? Und wenn ja: 25, 50? Platz reservieren? Großraum,

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