Reinlich & kleinlich?! - wie die Deutschen ticken
geschmeckt.“ Oder: „Die Pommes wollen noch mehr Ketchup.“ Und es wird zu Beschwerden kommen, weil es dem Deutschen ohne Beschwerde nun mal nicht schmeckt.
Im Idealfall gibt der Oberbefehlshaber sein Schnitzel, das „nun wirklich steinhart“ ist, erst zurück, nachdem er bereits zwei Drittel aufgegessen hat. Der Sohn verbrennt sich am vorletzten Pommes die Finger, und der Frau wird übel, kurz bevor die Jägersoße zu Ende geht. Darauf verlangt der Oberbefehlshaber entweder eine neue Portion, die a) „endlich saftig“, b) „nicht so heiß“ und c) „aber diesmal frisch“ sein soll. Oder er weigert sich, die Rechnung zu bezahlen.
Überhaupt – die Rechnung! Das ist für den Deutschen im Restaurant der Moment der Wahrheit, vor allem, wenn er mit Freunden, Verwandten oder Kollegen essen gegangen ist.
Menschen in anderen Ländern würden den Betrag wahrscheinlich durch die Zahl der am Tisch sitzenden Personen teilen. Den meisten Deutschen ist das zu einfach. Weil sie nur für das bezahlen wollen, was sie selbst gegessen und getrunken haben, ist es hier durchaus üblich, dass sich das Fräulein/der Ober am Ende des Abends mit Bleistift und/oder Taschenrechner an den Tisch setzt, um die Rechnung in ihre Einzelteile zu zerlegen. Meist mit dem Ergebnis, dass ein alkoholfreies Hefeweizen und eine Flasche stilles Mineralwasser übrig bleiben und an der Tafel so lange betretenes Schweigen herrscht, bis sich einer erbarmt, die Differenz zu übernehmen.
Mein peinlichstes „Wir würden gern getrennt zahlen“-Erlebnis hatte ich, natürlich, mit Herrn Müller-Hohenstein. Es war Weihnachten 2009, unsere Abteilung hatte sich nach Jahren endlich wieder zu einer gemeinsamen Julklapp-Feier aufgerafft. Der Chef hatte einen langen Tisch bei seinem Stammitaliener bestellt und die ersten beiden Getränkerunden spendiert. Alles, was danach kam, sollte jeder selbst bezahlen, das Essen sowieso.
Wir hatten einen netten Abend, teilten uns eine Flasche Wein nach der anderen, orderten Pasta-mista-Platten für zwei, vier und mehr Personen und waren um zwei Uhr durchweg betrunken. Das Betriebsklima hatte ungeahnte Temperaturen erreicht, der Chef seiner Sekretärin unter dem Tisch den Rock hochgeschoben und die neue Praktikantin mit Herrn Müller-Hohenstein Brüderschaft getrunken, Kuss (auf die Wange!) inklusive.
In diese Stimmung hinein wagte es der Wirt, auf seinen fälligen Feierabend hinzuweisen und mit einer Rechnung zu winken, die von ihrer Länge her problemlos als Klorolle durchgegangen wäre.
„Zusammen oder …?“
Bevor er „getrennt“ sagen konnte, rief ich durch den ganzen Raum: „Zusammen!“
Die meisten Kollegen klopften auf den Tisch, wie es die Deutschen halt so machen, wenn sie nur eine Hand frei haben (oder wenn sie zur Begrüßung nicht allen die Hand geben wollen). Nur Herr Müller-Hohenstein erstarrte und wischte sich den Praktikantinnenlippenstift aus dem Gesicht.
Lallend brüllte ich: „Einer für alle, alle für einen, das ist unser Motto. Wer was dagegen hat, soll sich jetzt melden oder für immer schweigen!“
Wir haben das Lokal gegen kurz nach drei verlassen. Herr Müller-Hohenstein nahm seinen Arm erst herunter, als der Wirt auch bei ihm bis auf den Cent genau abgerechnet hatte. Das übrig gebliebene alkoholfreie Hefeweizen und die Flasche stilles Wasser musste der Chef bezahlen.
Das zahlen wir
Es ist interessant, wie sich die Deutschen verändern, je nachdem, ob sie allein oder als Gemeinschaft auftreten. Als Individuum tut sich der Bundesbürger – siehe oben und unten – relativ schwer, Geld auszugeben. Als Staat sind wir die Ersten, die die angeblich leeren Geldbörsen weit aufmachen. Wo immer ein Land, eine Währung oder einfach nur eine systemrelevante Bank zu retten ist, ist die Bundesrepublik schon da: Zur Seite, das machen wir!
Die Nation hat sich infolge ihrer Geschichte daran gewöhnt, zumindest in Europa den Zahlmeister zu spielen, auch wenn Wirtschaftsweise genau davor immer warnen.
Die große Schuld aus dem Ersten und Zweiten Weltkrieg hatte Deutschland zu einem noch größeren Schuldner gemacht. Die letzten Forderungen aus der sogenannten Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts sind erst am 3. Oktober 2010, dem 20. Jahrestag der deutschen Einheit, verfallen. Bis zu diesem Zeitpunkt musste die wiedervereinte Republik für die Folgen des Ersten Weltkriegs zahlen.
Seitdem kann sie sich erstmals darauf konzentrieren, Länder zu retten, an deren Problemen sie keine Schuld hat.
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