Reinlich & kleinlich?! - wie die Deutschen ticken
Wörter sind das Credo nahezu aller Nachkriegsgenerationen: „Früher war alles besser.“
Je älter ein Deutscher wird, desto öfter sagt er genau das, sehr zum Erstaunen der Jüngeren. Denn die haben schließlich in der Schule gelernt, dass früher alles viel, viel schlechter war. Erster Weltkrieg, Weimarer Republik, Hitler und das Dritte Reich. Dann Zweiter Weltkrieg und Kapitulation. Deutschland erst in Trümmern, dann geteilt. Kalter Krieg, die Mauer, Angst vor Atombomben.
Furchtbar muss das alles gewesen sein, und trotzdem ist es leichter, einen 85-Jährigen zu treffen, der von früher schwärmt, als einen 20-Jährigen, der mit seinem heutigen Leben in einem Land zufrieden ist, das es sich leisten kann, tagelang darüber zu streiten, ob der Verteidigungsminister Teile seiner Doktorarbeit abgeschrieben hat oder nicht. Solche Probleme hätten unsere Vorfahren sicher gern gehabt!
Die lagen in Schützengräben, mussten Trümmer wegräumen, wurden in der Schule geschlagen und hatten erst keinen Fernseher und dann nur drei Programme. Trotzdem werden ihre Augen feucht, wenn sie von der Vergangenheit sprechen und sie sind stolz, dass sie die unter Androhung von Rohrstockschlägen gelernten Gedichte aus der Sexta immer noch auswendig können. Damals herrschte noch Zucht und Ordnung in den Klassenzimmern, heißt es dann, und dass sie nicht einmal die Rechtschreibfehler gemacht hätten, die man heute in seriösen Tageszeitungen fände. Überhaupt wäre Deutschland bei einem PISA-Vergleich, wenn es den denn seinerzeit gegeben hätte, sehr weit vorn gelandet.
„Die Jugend von heute ist auch nicht mehr das, was sie einmal war“ ist deshalb das Gegenstück zu „Früher war alles besser“, und wahrscheinlich kann man die beiden Aussagen nur zusammen verstehen. Denn was bleibt älteren Menschen in einer Gesellschaft, die auf die werberelevante Zielgruppe der 14- bis 49-Jährigen gepolt ist, anderes übrig, als darauf hinzuweisen, dass zu der Zeit, in der sie in diesem Alter waren, das Leben in Deutschland noch funktionierte?
„Früher war alles besser“ könnte tatsächlich eine von Generation zu Generation weitergegebene Kurzfassung sein von „Früher war alles besser, weil wir jung waren“. Dem idealen Totschlagargument, weil die, die es sich anhören müssen, niemals das Gegenteil werden beweisen können – einfach, weil sie damals noch nicht geboren waren.
Das wäre die eine Erklärung. Für die andere muss man noch tiefer in die Volksseele eintauchen. Dann wird man feststellen, dass eine Formulierung wie „Früher war alles besser“ nicht nur eine negative, sondern auch eine erstaunlich positive Seite hat. Denn normalerweise sind die Deutschen mit sich und ihrem gegenwärtigem Leben nie im Reinen, haben immer irgendetwas zu meckern und blicken sorgenvoll in die Zukunft. Ist es da nicht ein Glücksfall, dass sie sich, wenn auch mit Verzögerung, wenigstens an Vergangenem erfreuen können? Ist die „Früher war alles besser“-Mentalität nicht tatsächlich das späte Eingeständnis einer großen Zufriedenheit und damit das Pendant zu dem, was überall in der Welt die „German Angst“ genannt wird?
Wir sind gar nicht so verzagt, so missmutig und unglücklich, wie es uns immer nachgesagt wird. Wir erkennen nur etwas später, wie gut wir es hatten.
Es geht uns zu gut
Eigentlich müssten wir Deutschen zu den glücklichsten Menschen der Welt gehören. Seit 66 Jahren leben wir ununterbrochen in Frieden, seit 21 Jahren in trauter Einheit. Während der Rest der Welt von verheerenden Natur- und Klimakatastrophen heimgesucht wird, sind bei uns vereiste Straßen im Winter das einzige Problem. Deutschland gehört zu den wichtigsten Export- und Wirtschaftsnationen und ist so schnell wie kein anderer Staat aus der Finanzkrise herausgekommen. Die Arbeitslosigkeit sinkt, die Lebenserwartung steigt. Die sozialen Sicherungssysteme sind vorbildlich, und die Bundesregierung ist einmalig politisch korrekt zusammengesetzt: eine Frau, ein Homosexueller, eine Mutter mit sieben Kindern, ein Rollstuhlfahrer, ein Migrant, Ost- wie Westdeutsche. Die Fußballnationalmannschaft hat es bei den Weltmeisterschaften dieses Jahrhunderts immer mindestens bis ins Halbfinale geschafft, Lena Meyer-Landrut hat den Eurovision Song Contest gewonnen und Sebastian Vettel die Formel 1.
Was will man mehr? Normalerweise dürften die Deutschen aus dem Feiern und Jubeln gar nicht mehr herauskommen. Auf den Straßen würde man strahlende Menschen
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