Reinlich & kleinlich?! - wie die Deutschen ticken
Vaters dazu. Wann immer es ein Problem in der Familie, im Beruf oder im Tennisverein gab, setzte er sich an seinen Schreibtisch, nahm ein DIN-A4-Blatt aus der Schublade und zog in der Mitte einen senkrechten Strich. Dann wurde links das Für (Stärke) und rechts das Wider (Schwäche) von Fragestellungen wie diesen vermerkt:
Sollen wir ein neues Auto kaufen?
Brauchen wir eine größere Wohnung?
Was passiert, wenn ich mich um das Amt des Vereinsvorsitzenden bewerbe?
Gewonnen hatte am Ende die Seite, auf der am meisten stand.
So etwas prägt natürlich, und deshalb ist mir unvorstellbar, wie man sein Leben ohne Listen meistern kann. Die „To-do-Liste“, die mir meine Frau hinterlässt, wenn ich einmal einen arbeitsfreien Tag habe, ist legendär. Meist beginnt sie mit „bügeln“ und endet mit etwas wie: „Wenn Du dann noch Zeit hast, könntest Du die Bücher im Wohnzimmer nach Autoren sortieren.“
Für das Kofferpacken vor Reisen haben wir inzwischen wiederverwendbare Standardlisten („Universalstecker, Sagrotan, Pflaster, Mückenspray“ etc.), und für besondere Anlässe wie Weihnachten oder runde Geburtstage gibt es elektronische Listen, die gegebenenfalls an weitere Beteiligte verschickt werden können.
Auf unserer aktuellsten steht Dringend Kita finden ganz oben, inzwischen mit fünf Ausrufezeichen. Nun erklärt sich auch, warum dieses Kapitel auf jenes mit der schwangeren Familienministerin folgt.
Selbstverständlich sind meine Frau und ich als pflichtbewusste Staatsbürger dem Vorbild der Ministerin gefolgt und beteiligen uns jetzt aktiv am Erhalt der Deutschen. Was eine Aufgabe ist, die großen Spaß machen würde, wenn sich die Eltern einfach aufs Kindermachen und -kriegen konzentrieren könnten. Können sie aber nicht, weil natürlich auch eine Geburt perfekt organisiert sein will. Dafür gibt es Listen, gegen die sich der Einkaufszettel einer zehnköpfigen Großfamilie ausmacht wie ein Taschentuch im Vergleich zu einer Tapetenrolle. Es ist ein Wunder, wie ein Mensch, der noch gar nicht auf der Welt ist, derart viele Termine verursachen kann.
Werdende Eltern lernen zudem eine Listenform kennen, die gerade der ungeduldige Deutsche überhaupt nicht schätzt: die Warteliste. Es gibt sie für Kinderwagen genauso wie für Geburtsvorbereitungs- und -nachbereitungskurse, für Hebammen und vor allem für Kitas.
Als meine Frau und ich nach den ersten drei Schwangerschaftsmonaten bei einer Kindertagesstätte vorstellig wurden, um unseren Nachwuchs für einen Platz in anderthalb bis zwei Jahren anzumelden, sah uns die ansonsten nette junge Dame an, als würden wir ihr erklären, dass die Erde doch eine Scheibe sei, und meinte dann: „Da sind Sie aber ganz schön spät dran!“
„Wie, ganz schön spät? Wir wissen doch erst seit drei Monaten, dass wir Eltern werden!“
„Sie hätten damals gleich bei uns anrufen müssen, dann hätten Sie vielleicht eine Chance auf einen Platz gehabt.“
„Wann wäre denn ‘damals gleich’ gewesen?“, wollte ich wissen. „Vielleicht am besten direkt nach der Zeugung?“
„Das“, entgegnete die junge Dame ganz ernsthaft, „wäre perfekt gewesen.“
„Das ist jetzt nicht dein Ernst, Klaus-Jürgen!“
Als Herr Müller-Hohenstein vom Elterngeld erfuhr, kam Leben in ihn. Das war genau die Erfindung, auf die er schon immer gewartet hatte! Monatelang auf Staatskosten zu Hause bleiben, ohne das Anrecht auf den Arbeitsplatz zu verlieren – ein Traum.
In den Wochen nach der Einführung des Elterngelds baggerte er wirklich jede Praktikantin in unserer Firma an, offenbar in der Hoffnung, mit Ende vierzig und ohne lange Beziehung doch noch Vater werden zu können. Er trieb es so weit, dass seine Favoritin, eine 28-jährige Brünette aus der Buchhaltung, nach einer offenbar extrem plumpen Anmache schließlich durch das Großraumbüro schrie: „Das ist jetzt nicht dein Ernst, Klaus-Jürgen!“
Womit wir uns endlich dem wahren Grund nähern, aus dem es Herr Müller-Hohenstein in dieses Buch geschafft hat: sein Doppelname. Klaus-Jürgen Müller-Hohenstein – kann es ein schöneres Beispiel für das hierzulande grassierende Phänomen der Namensketten geben? Und wäre Herr Müller-Hohenstein nicht ein Kandidat dafür gewesen, an seinen Unendlich-Namen einen weiteren dranzuhängen, wenn es erlaubt und er dadurch in den Genuss von Elterngeld gekommen wäre? Kollegen legten ihm einmal eine Einladung zu einem Termin mit der Hamburger CDU-Politikerin Viviane
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