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Reise nach Genf

Reise nach Genf

Titel: Reise nach Genf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jacques Berndorf
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gab ich zu. »Ich würde vorschlagen, Sie bleiben zwei, drei Wochen hier oben. Unten in Linderhof beziehen zwei Leute der ehrenwerten Gesellschaft Wache, oder die Leute können hier oben bei Ihnen sein.«
    »Was sage ich in Oberammergau?«
    »Sagen Sie: Familientreffen, Erbschaftsangelegenheiten in Palermo. Sagen Sie das auch Ihrer Familie. Kein Wort zu irgendwem.«
    »Etwa sofort?« fragte er.
    »Sofort«, sagte ich. »Noch heute. Wir sollten kein Risiko eingehen. Sie kriegen von uns noch eine Hausarbeit auf. Sie schreiben pingelig genau auf, wie Ihr Alltag im ›Beau Rivage‹ aussah. Sie schreiben den ganz normalen Alltag auf, alles über Gäste, an die Sie sich erinnern. Menschen im Hotel sozusagen. Machen Sie das?«
    Er nickte und schwieg.
    »Fahren Sie jetzt nach Hause und packen Sie. Lassen Sie sich offiziell von Ihrem Vater nach München fahren. Sagen Sie ihm, er soll Verbindung zur Bruderschaft aufnehmen. Auch sofort. Komm, wir fahren.«
    »Was machen Sie jetzt?«
    »Das weiß ich noch nicht genau. Wir müssen ins Baden-Württembergische zu lieben Freunden. Wir kommen so schnell wie möglich wieder. Noch etwas: Sie sollten Ihr Auto nicht hier parken. Es ist zu gefährlich.«
    Er nickte, antwortete nicht, hockte da und starrte vor sich hin.
     
    Wir fuhren schweigend zu Tal, hockten uns im Lindergrieß an die Ammer. Ich schlief ein, ich hörte noch, wie sie murmelte:
    »Was glaubst du, ist es auch für uns gefährlich?«
    Ich erinnere mich, daß ich etwas abseits der Norm antwortete. Ich sagte todmüde: »Weißt du, er muß leben bleiben, er kennt alle Gesichter.«
    Als ich aufwachte, war es neun, die Sonne war verschwunden, es war lauwarm. Minna saß am Ufer und warf kleine Steine in das Wasser. »Ich habe dich nicht wecken wollen, weil du geschlafen hast wie ein Baby. Sollten wir uns nicht ein Hotelzimmer besorgen? Wir müssen schlafen, lange schlafen.«
    »In Ordnung. Ein Hotelzimmer. Scheiße, mein Finger schmerzt.«
    »Du hast ja auch vergessen, daß er gebrochen wurde«, sagte sie. »Ich fahre dich in ein Hotel.«
    »Nein, wir versuchen in Garmisch einen Arzt zu kriegen. Ich brauche vermutlich einen neuen Gips. Derweil kannst du Zimmer besorgen.«
    Sie fuhr mich in das Kreiskrankenhaus Garmisch, und ein junger Ambulanzarzt, der einen so sachlichen Eindruck machte wie ein Kfz-Mechaniker, befand: »Det Dingis jebrochen, ick meene, der Jips. Also machen wir einen neuen. Versichert?«
    »Ja. Privat.«
    »Sehr schön. Dann vadient mein Chef.«
    Nach einer halben Stunde marschierte ich mit einem neuen Fingergips und einem großen Glas Schmerztabletten aus dem Haus: Minna stand im Eingang und sagte: »Ich habe ein großes Doppelzimmer für uns. Du kannst ein Bett haben oder zwei Betten oder ein Sofa oder eine Liege. Bezahlt ist es auch schon. Ich gebe eine Runde Schlaf aus.«
    Es war ein Zimmer in einer Pension jenseits der Loisach. Es war still wie in der Eifel, und ich war ihr dankbar. Das Zimmer, auf das uns eine junge Frau führte, war ganz in roher, lasierter Fichte gehalten, und das bayrisch breite Doppelbett hatte tatsächlich die Andeutung eines Himmels aus schneeweißem Tüll.
    »Ist das nicht hübsch?« fragte Minna.
    »Sehr«, sagte ich. »Ich nehme die Liege, dann sehe ich es nicht.«
    »Du bist roh.«
    »Nein, müde.«
    »Aber wir sind doch viel weiter als noch vor vierundzwanzig Stunden. Wir wissen, daß Watermann viele Leute traf. Wir wissen, daß in dem Hotel nichts so war, wie es dargestellt worden ist. Wir wissen … ach verdammt, freu dich doch ein bißchen. Du kannst müde sein, aber nicht so kaputt.«
    »Ich habe es einfach satt, hinter den Leichen anderer Leute herzurennen. Wieso spiele ich den Helden und will etwas klären, an dessen Klärung kaum jemand sonderlich interessiert ist? Ach verdammt, ich nehme jetzt noch so ein Schmerzding und ab in den Schlaf.«
    »Willst du das Bett?«
    »Das ist mir egal. Ich möchte mich morgen in mein Auto setzen können, um in Ruhe heimzufahren. Ich möchte meine Katze Krümel auf den Arm nehmen und sie fragen, was in der Zwischenzeit passiert ist. Ich möchte in der Sonne an meiner Mauer hocken und zuschauen, wie die Kohlweißlinge die Brennesseln anfliegen. Statt dessen …«
    »Ich heule gleich«, kicherte sie. »Baumeister, der Tragische.«
    »Tut mir leid, ich bin einfach down. Kannst du mich etwas abduschen? Mit einer Hand geht das so schlecht. Ich stinke schon.«
    »Na sicher«, sagte sie in demselben Ton, in dem das meine Mutter vor dreißig

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