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Reise nach Ixtlan.

Reise nach Ixtlan.

Titel: Reise nach Ixtlan. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos Castaneda
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Augen ein kaum wahrnehmbares Zeichen, aber ich wagte nicht, hinzuschauen.
    Ich sagte, daß ich ihm glaubte und daß er nicht länger bei diesem Thema verweilen solle, weil ich Angst hätte.
    Er lachte schallend und aus vollem Hals, wie es seine Art war. Er antwortete, daß wir uns nie gründlich genug mit der Frage unseres Todes befaßten. Und ich wandte ein, daß es für mich sinnlos sei, über meinen Tod zu grübeln, da ein solcher Gedanke mich nur belasten und ängstigen würde.
    »Du redest Unsinn!« rief er. »Der Tod ist der einzige weise Ratgeber, den wir haben. Immer wenn du, wie es bei dir meistens der Fall ist, das Gefühl hast, daß alles falsch läuft und dir das sichere Ende bevorsteht, dann wende dich an deinen Tod und frage ihn, ob das zutrifft. Dein Tod wird dir sagen, daß du unrecht hast; daß nichts wirklich wichtig ist, außer seiner Berührung. Dein Tod wird dir sagen: „Ich habe dich noch nicht angerührt."« Er wiegte seinen Kopf und schien auf eine Antwort zu warten. Ich wußte keine. Meine Gedanken liefen wirr durcheinander. Er hatte einen erschütternden Schlag gegen meinen Egoismus geführt. Im Licht meines Todes war es ungeheuer belanglos, daß ich mich über ihn geärgert hatte.
    Ich hatte den Eindruck, daß er sich über meinen Stimmungswandel völlig im Klaren war. Er hatte das Blatt zu seinen Gunsten gewendet. Er lächelte und summte eine mexikanische Weise. »Ja,« sagte er nach langer Pause leise. »Einer von uns muß sich ändern, und zwar bald. Einer von uns muß wieder lernen, daß der Tod ein Jäger ist, und daß er immer zu unserer Linken ist. Einer von uns muß den Tod um Rat fragen und seine verdammte Kleinlichkeit aufgeben, die Menschen ansteht, die drauflosleben, als könnte der Tod sie nie ereilen.«
    Wir schwiegen über eine Stunde und dann gingen wir weiter. Viele Stunden lang wanderten wir im Chaparral. Ich fragte ihn nicht, ob er damit einen Zweck verfolge: Das war gleichgültig. Irgendwie hatte er mich dazu gebracht, ein altes Gefühl wiederzuerleben, etwas, das ich völlig vergessen hatte, die reine Freude, sich einfach umherzubewegen, ohne damit einen intellektuellen Zweck zu verfolgen. Ich wollte, daß er mich noch einmal einen Blick auf das werfen ließ, was ich auf dem Felsen gesehen hatte - was es auch gewesen sein mochte.
    »Laß mich noch einmal diesen Schatten sehen«, sagte ich. »Du meinst deinen Tod, nicht wahr?« antwortete er mit einem Anflug von Ironie in der Stimme. Einen Augenblick zögerte ich, es auszusprechen. »Ja«, sagte ich schließlich. »Laß mich noch einmal meinen Tod sehen.«
    »Nicht jetzt«, sagte er. »Du bist jetzt zu stabil.«
»Wie bitte?«
    Er fing an zu lachen, und aus irgendeinem mir nicht bewußten Grund war sein Lachen nun nicht mehr beleidigend und hämisch, wie es mir zuvor erschienen war. Ich glaubte nicht, daß es in der Tonhöhe, in der Lautstärke oder in der Gesinnung anders war; das neue Element war meine Stimmung. Angesichts meines drohenden Todes waren meine Ängste und meine Wut sinnlos geworden. »Dann laß mich zu den Pflanzen sprechen«, sagte ich. Er brüllte vor Lachen. »Jetzt bist du zu brav«, sagte er, immer noch lachend. »Du fällst von einem Extrem ins andere. Sei ruhig, es gibt keinen Grund, zu den Pflanzen zu sprechen, solange du nicht ihre Geheimnisse wissen willst, und dazu brauchst du eine ganz unbeugsame Absicht. Spar dir also deine guten Vorsätze auf. Es gibt auch keinen Grund, deinen Tod zu sehen. Es genügt, daß du seine Anwesenheit spürst.«

5. Verantwortung übernehmen
Dienstag, 11. April 1961
    Frühmorgens am Sonntag, dem 9. April, traf ich bei Don Juan ein.
    »Guten Morgen, Don Juan«, sagte ich. »Ich bin froh, dich zu sehen!«
    Er sah mich an und brach in ein weiches Lachen aus. Er war zu meinem Auto  gekommen, als ich es parkte, und hielt nun die Tür auf, während ich etliche Pakete Lebensmittel zusammensuchte, die ich für ihn mitgebracht hatte.
    Wir gingen zum Haus und setzten uns neben die Tür. Dies war das erste Mal, daß  mir wirklich bewußt geworden war, was ich hier tat. Drei Monate hatte ich mich darauf gefreut zu meinem »Untersuchungsfeld« zurückzukehren. Es war, als sei eine in meinem Inneren tickende Zeitbombe explodiert, und plötzlich hatte ich mich an etwas für mich Transzendentales erinnert. Ich hatte mich erinnert, daß ich einmal in meinem Leben sehr geduldig und tüchtig gewesen war.
    Noch bevor Don Juan etwas sagen konnte, stellte ich ihm die Frage, um

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