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Reise nach Ixtlan.

Reise nach Ixtlan.

Titel: Reise nach Ixtlan. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos Castaneda
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er, »kämpfe lieber gegen deine eigene Trägheit und erinnere dich.«
    Einen Augenblick gab ich mir ernstlich Mühe, ihn zu verstehen. Mir kam gar nicht erst der Gedanke, daß ich genauso gut hätte versuchen können, mich zu erinnern. »Es gab eine Zeit, in der du eine Menge Vögel sahst«, sagte er, als wollte er mir ein Stichwort geben.
    Ich erzählte ihm, daß ich als Kind auf einer Farm gelebt und Hunderte von Vögeln erlegt hatte.
    Wenn dies der Fall sei, sagte er, dann sollte es mir nicht schwer fallen, mich an all die spaßigen Vögel zu erinnern, die ich gejagt hatte. Er sah mich fragend an, als habe er mir soeben das letzte Stichwort gegeben.
    »Ich habe so viele Vögel gejagt«, sagte ich, »daß ich mich nicht an jeden einzelnen erinnern kann.«
    »Dieser Vogel ist etwas besonderes«, antwortete er beinah flüsternd. »Dieser Vogel ist ein Falke.«
    Ich bemühte mich erneut, herauszufinden, worauf er hinauswollte. Hielt er mich zum besten? War es ihm ernst? Nach langer Pause drängte er mich abermals, mich zu erinnern. Ich spürte, daß es sinnlos wäre, dieses Spiel beenden zu wollen. Mir blieb nichts anderes übrig, als mitzumachen.
    »Sprichst du von einem Falken, den ich gejagt habe?« fragte ich ihn.
    »Ja«, flüsterte er mit geschlossenen Augen. »Also geschah es, als ich ein Junge  war?«
    »Ja.«
    »Aber du sagst doch, daß du den Falken jetzt vor dir siehst.«
»Ich sehe ihn.«
»Was willst du von mir?«
»Ich will, daß du dich erinnerst.«
»An was denn, um Himmelswillen!«
    »Ein Falke, schnell wie ein Lichtstrahl«, sagte er und sah mir in die Augen. Ich spürte  mein Herz stocken.
    »Jetzt schau mich an«, sagte er.
    Ich tat es nicht. Ich hörte seine Stimme als schwachen Klang. Eine gewaltige Erinnerung hatte mich völlig überwältigt. Der weiße Falke!
    Es hatte alles mit einem Wutausbruch meines Großvaters begonnen, nachdem er seine Leghorn-Küken gezählt hatte. Ihr Verschwinden war ebenso regelmäßig wie unheimlich. Er organisierte und leitete persönlich einen peinlich genauen Wachdienst, und nach Tagen stetigen Beobachtens sahen wir schließlich einen weißen Vogel mit einem Leghorn-Küken in den Klauen davonfliegen. Der Vogel flog schnell und kannte offenbar seinen Weg. Er stieß zwischen den Bäumen hinab, packte das Küken und flog durch einen Spalt zwischen zwei Ästen davon. Es geschah so schnell, daß mein Großvater es kaum sah, aber ich hatte es gesehen und wußte, daß es wirklich ein Falke war. Mein Großvater sagte, wenn das stimme, dann müsse es ein Albino sein.
    Wir eröffneten die Jagd auf den Falken, und zweimal glaubte ich, ich hätte ihn erwischt. Er ließ sogar seine Beute fallen, aber er entkam. Er war zu schnell für mich. Auch war er sehr schlau; er kam nie wieder, um auf der Farm meines Großvaters zu jagen. Ich hätte die Sache wohl vergessen, wenn nicht mein Großvater mich angespornt hätte, den Vogel zu jagen. Zwei Monate lang stellte ich dem AlbinoFalken überall in dem Tal nach, in dem ich lebte. Ich lernte seine Gewohnheiten kennen und konnte beinah seine Flugbahn erahnen, doch seine Schnelligkeit und die Plötzlichkeit seines Auftauchens verblüfften mich immer wieder. Ich konnte mich rühmen, daß ich ihn wahrscheinlich jedesmal, wenn wir zusammentrafen, daran hindern konnte, seine Beute zu packen, doch ich konnte ihn nicht erlegen. In den zwei Monaten, in denen ich den seltsamen Krieg gegen den Albino-Falken führte, war ich meinem Ziel nur ein einziges Mal nahegekommen. Ich hatte ihm den ganzen Tag nachgestellt und war müde. Ich hatte mich zur Rast niedergelassen und war unter einem hohen Eukalyptusbaum eingeschlafen. Plötzlich weckte mich der Schrei eines Falken. Ohne mich zu bewegen, öffnete ich die Augen und sah einen weißen Vogel in den höchsten Zweigen des Eukalyptusbaumes sitzen. Es war der Albino-Falke. Die Jagd war entschieden. Es würde ein schwieriger Schuß werden; ich lag auf dem Rücken, und der Vogel wandte mir den Rücken zu. Ein kurzer Windstoß kam auf, und ich nutzte ihn, um das Geräusch zu tarnen, das ich verursachte, als ich meine 0.22 Langflinte hob, um auf ihn anzulegen. Ich wollte warten, bis der Vogel sich umdrehte oder aufflog, damit ich ihn nicht verfehlte. Aber der Albino verharrte regungslos. Um besser schießen zu können, hätte ich meinen  Standort wechseln müssen, und dafür war der Falke zu schnell. Ich hielt es für das beste, zu warten. Und dies tat ich, eine lange, endlose Weile. Vielleicht hatte das

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