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Reise nach Ixtlan.

Reise nach Ixtlan.

Titel: Reise nach Ixtlan. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos Castaneda
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beenden. Ich zitterte am ganzen Körper, als würde ich von einer unbekannten Kraft gerüttelt. Als ich aufrecht saß, sah Don Juan mich prüfend an, und dann ging er um mich herum, bis er sich wieder an die Stelle setzte, wo er zuvor gesessen hatte.
    »Das war genug«, sagte er. »Du kannst diese Übung ein andermal ausführen, wenn du mehr persönliche Kraft hast«, sagte er. »Habe ich etwas falsch gemacht?«
»Nein. Das Nicht-tun ist nur etwas für sehr starke Krieger, und du hast noch nicht die Kraft, um damit fertigzuwerden. Jetzt würdest du mit der Hand nur grauenhafte Dinge einfangen. Übe dich also schrittweise, bis deine Hand nicht mehr kalt wird. Sobald deine Hand warm bleibt, wirst du wirklich die Linien der Welt fühlen können.« Er machte eine Pause, als wollte er mir Zeit geben, ihn nach diesen Linien zu fragen. Aber bevor ich dies tun konnte, erklärte er, daß es unendlich viele Linien gebe, die uns mit den Dingen verbinden. Die Übung des »Nicht-tuns«, die er mir soeben gezeigt hatte, so sagte er, würde es einem ermöglichen, eine aus der sich bewegenden Hand hervortretende Linie zu spüren, eine Linie, die man nach Belieben überall hintun oder hinwerfen könne. Dies sei nur eine Übung, sagte Don Juan, denn die von der Hand geformten Linien seien nicht dauerhaft genug, um in einer praktischen Situation von wirklichem Wert zu sein.
    »Ein Wissender setzt andere Teile seines Körpers ein, um dauerhafte Linien hervorzubringen«, sagte er. »Welche Teile des Körpers, Don Juan?«
»Die dauerhaftesten Linien, die ein Wissender hervorbringt, kommen aus seiner Körpermitte«, sagte er. »Aber er kann sie auch mit den Augen herstellen.«
»Sind die Linien real?«
»Natürlich.«
»Kann man sie sehen oder berühren?«
    »Sagen wir mal, man kann sie fühlen. Der schwierigste Teil auf dem Weg eines Kriegers ist, zu erkennen, daß die Welt ein Gefühl ist. Beim Nicht-tun fühlt man die Welt, und man fühlt die Welt durch ihre Linien.«
    Er unterbrach sich und sah mich neugierig an. Er zog die Brauen hoch, riß die Augen auf und blinzelte dann. Mir war, als sähe ich ein blinzelndes Vogelauge. Auf der Stelle empfand ich Unbehagen und Übelkeit. Es war, als würde ein Druck auf meinen Magen ausgeübt.
    »Siehst du, was ich meine?«, sagte Don Juan und wandte die Augen ab. Ich erzählte ihm, daß mir übel geworden sei, und er antwortete in sachlichem Ton, das wisse er wohl, denn er habe versucht, mich mit seinen Augen die Linien der Welt fühlen zu lassen. Ich konnte die Behauptung, daß er selbst mir dieses Gefühl bereitet habe, nicht akzeptieren. Ich äußerte meine Zweifel. Ich konnte mir nicht vorstellen, daß er meine Übelkeit verursacht hatte, denn er hatte mich in keiner Form körperlich berührt.
    » Nicht-tun ist sehr einfach, aber auch sehr schwer«, sagte er. »Es geht nicht darum,  es zu verstehen, sondern es zu beherrschen. Das Sehen ist natürlich die höchste Vollendung eines Wissenden, und zum Sehen gelangt man nur, wenn man durch die Technik des Nicht-tuns die Welt angehalten hat.«
    Ich lächelte unwillkürlich. Ich hatte nicht verstanden, was er meinte.
    »Wenn man es mit Menschen zu tun hat«, sagte er, »sollte man sich nur bemühen,  ihrem Körper etwas zu vermitteln. Das ist es, was ich bis jetzt mit dir gemacht habe. Ich lasse deinen Körper etwas wissen. Wen kümmert es, ob du es verstehst oder nicht?«
    »Aber das ist unfair, Don Juan. Ich möchte alles verstehen, sonst wäre es ja  Zeitverschwendung, daß ich herkomme.«
    »Zeitverschwendung!« rief er, wobei er  meinen Tonfall parodierte. »Du bist wirklich eingebildet.«
    Er stand auf und sagte, wir würden nun auf den Lavagipfel zu unserer Rechten steigen.
    Der Aufstieg zum Gipfel war qualvoll. Es war eine richtige Felskletterei, nur daß wir keine Seile hatten, um uns gegenseitig zu helfen und zu sichern. Don Juan sagte mir immer wieder, ich solle nicht hinabsehen; und ein paarmal, als ich am Fels abglitt, mußte er mich buchstäblich wieder hinaufziehen. Ich war nicht wenig verlegen, weil Don Juan, der doch so viel älter war, mir helfen mußte. Ich sagte, ich sei in schlechter körperlicher Verfassung, weil ich zu faul sei, um irgendwelche Übungen zu machen. Er antwortete, sobald man einen gewissen Grad persönlicher Kraft erreicht habe, seien Übungen oder dergleichen Training unnötig, denn um in einwandfreier Verfassung zu bleiben, brauche man sich lediglich im »Nicht-tun« zu üben. Als wir den Gipfel

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