Reise nach Ixtlan.
daß ich die beiden Schatten als zu einem einzigen verschmolzen wahrnahm. Ich stellte fest, daß das Sehen ohne Fusionierung der Bilder dem so zustandegekommenen Schatten eine unglaubliche Tiefe und so etwas wie Transparenz verlieh. Verblüfft starrte ich hin. An der Stelle, auf die ich meinen Blick konzentrierte, war jedes kleine Loch im Fels genau zu erkennen; und der darüberliegende zusammengesetzte Schatten wirkte wie ein Film von unglaublicher Transparenz. Ich bemühte mich, nicht zu blinzeln, denn ich fürchtete, das so flüchtig zustande gekommene Bild zu verlieren. Schließlich zwang mich das Jucken meiner Augen, zu blinzeln, aber gleichwohl verlor ich die Einzelheiten nicht aus dem Blick. Ja, das Bild war sogar nun, nachdem die Hornhaut befeuchtet war, noch klarer geworden. In diesem Augenblick war mir, als sähe ich aus unermeßlicher Höhe auf eine Welt hinab, die ich noch nie erblickt hatte. Auch bemerkte ich, daß ich den Blick über die Umgebung des Schattens gleiten lassen konnte, ohne den Brennpunkt meines Gesichtskreises zu verlieren. Dann war mir für einen Augenblick nicht mehr bewußt, daß ich einen Stein ansah. Mir war, als landete ich in einer Welt, die jenseits alles Vertrauten und Vorstellbaren lag. Diese ungewöhnliche Wahrnehmung hielt eine Sekunde an, und dann war plötzlich alles ausgeschaltet. Automatisch schaute ich auf und sah Don Juan direkt über den Steinen stehen; er sah mich an. Sein Körper verdeckte die Sonne.
Ich schilderte ihm meine ungewöhnliche Wahrnehmung, und er erklärte, er habe mich unterbrechen müssen, weil er »sah«, daß ich im Begriff stand, mich darin zu verlieren. Er fügte hinzu, daß wir alle die natürliche Neigung hätten, uns hineinzuversenken, wenn Eindrücke dieser Art auftreten, und daß ich, indem ich mich hineinversenkte, das »Nicht-tun« beinah in mein altes, vertrautes »Tun« verwandelt hätte. Er sagte, ich hätte stattdessen den Anblick aushalten sollen, ohne ihm zu verfallen, denn das »Tun« sei eine Art des Verfallens.
Ich beklagte mich, daß er mir vorher hätte sagen sollen, was mich erwartete und was ich tun sollte, doch er meinte, er habe nicht wissen können, ob es mir gelingen würde, die Schatten zu vereinigen.
Ich mußte eingestehen, daß ich das »Nicht-tun« weniger denn je begriff. Don Juan hielt mir entgegen, ich solle zufrieden sein, weil ich mich immerhin richtig verhalten hatte, weil es mir gelungen war, die Welt, indem ich sie verkleinerte, zu vergrößern, und weil ich - obgleich weit davon entfernt, die Linien der Welt zu spüren - die Schatten der Steine richtig als eine Tür zum Nicht-tun benutzt hatte. Die Behauptung, ich hätte die Welt vergrößert, indem ich sie verkleinerte, interessierte mich ungemein. Die Details des porösen Felsens waren an der Stelle, auf die ich meinen Blick konzentriert hatte, so lebhaft gewesen und hatten sich so exakt abgezeichnet, daß die runde Felsspitze für mich zu einer ausgedehnten Welt geworden war; und trotzdem war sie tatsächlich ein verkleinertes Abbild des Steines gewesen. Als Don Juan ins Licht getreten war und ich wieder wie üblich sah, wurden die exakten Details stumpf, die kleinen Löcher im porösen Gestein größer, und die braune Farbe der erstarrten Lava wurde glanzlos. Und alles verlor jene leuchtende Transparenz, die den Stein zu einer realen Welt gemacht hatte. Dann nahm Don Juan die zwei Steine, legte sie behutsam in eine tiefe Gesteinsspalte und setzte sich mit gekreuzten Beinen, das Gesicht nach Westen gewandt, an die Stelle, wo vorhin die Steine gewesen waren. Er klopfte links von sich auf den Boden und meinte, ich solle mich setzen.
Lange saßen wir ohne zu sprechen da. Dann aßen wir, ebenfalls schweigend. Erst als die Sonne untergegangen war, wandte er sich plötzlich um und fragte nach meinen Fortschritten beim »Träumen«.
Ich erzählte ihm, daß es mir anfangs ganz leicht gefallen war, daß ich aber im Augenblick ganz aufgehört hatte, in meinen Träumen meine Hände zu finden. »Als du mit dem Träumen anfingst, hast du meine persönliche Kraft benutzt, deshalb fiel es dir leichter«, sagte er. »Jetzt bist du leer. Aber du mußt es weiterhin versuchen, bis du genügend eigene Kraft hast. Du siehst, das Träumen ist das Nichttun der Träume, und in dem Maß wie du Fortschritte im Nicht-tun machst, wirst du auch im Träumen Fortschritte machen. Der Trick besteht darin, daß du nicht aufhörst, deine Hände zu suchen, selbst wenn du nicht glaubst, daß
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