Reise ohne Ende
den Felsen gebracht, wo der Wind ihn nicht stören würde. Soll ich gehen und ihm helfen?“
„Du hast mit den Triebwerken genug zu tun“, sagte Rae. „Laß Gildoran gehen. Doran – sag ihm bitte, daß ich die Wachen habe zurückrufen lassen.“
Gildoran ging in die Richtung, in die er Gilhart hatte verschwinden sehen, hin zu dem Felsen, der von den großen Büschen und ihren tassenförmigen Blüten umringt war. Die Sonne senkte sich jetzt und die Wolken wurden dichter, so daß das Licht etwas schwächer wurde, aber die tassenartigen Blüten schienen noch immer mit einer Art innerem Licht zu schimmern. Von Gilhart war nirgends eine Spur zu sehen.
Gildoran ging verwirrt, aber wachsam am unteren Rand des Felsens entlang und drehte seinen Kopf ständig hin und her, um den Kapitän zu entdecken. Er spürte eine merkwürdige Unruhe, die fast greifbar war, wie einen schlechten Geschmack im Mund. Nachdem er einige hundert Meter an dem Felsen entlanggelaufen war und nichts als die grüngrauen Zweige und die schimmernden Blüten gesehen hatte, fing er an, sich wirklich Gedanken zu machen. Wenn es sonst jemand von der Samtfalter gewesen wäre und nicht der Kapitän, hätte er den Namen gerufen, und zurückgehalten hätte er sich dabei auch nicht. Seine Besorgnis und Angst begann schnell, sich mit Ärger zu vermischen; er konnte sich vorstellen, was Gilhart zu sagen gehabt hätte, wenn sich ein Mannschaftsmitglied so abgesetzt hätte.
Trotz der Etikette an Bord begann er zu rufen.
„Gilhart! Gilhart! Kapitän!“
Er bekam keine Antwort. Um ihn herum waren keine anderen Laute als das ständige Summen der Insekten im Gebüsch – wie sehr fing er an, dieses Geräusch zu hassen! – und das leise Rascheln des Winds in den Tassenblüten der Büsche.
Gildoran brüllte mit der gesamten Kraft seiner nicht zu verachtenden Lungen: „Kapitän! Kapitän!“
Noch immer nur Stille, unterbrochen von den leisen Geräuschen des Winds. Doch dann sah Gildoran etwas, was schnell seinen Blick anzog: ein weiß-blaues Viereck, zu regelmäßig, zu hell, um ein natürliches Objekt in all dem Grün sein zu können. Es lag zwischen den Tassen-Blumen. Er schob die Zweige zur Seite. Dornen in dem Gebüsch stachen und zerrissen seine Hände und blieben an seiner Uniform hängen.
Er streckte seine Hand in den Mund und saugte an den blutenden Fingern, aber er drängte sich weiter. Sein Herz schlug ihm in plötzlicher bohrender Angst bis zum Hals.
Er fand Gilhart in einer kleinen Lichtung zwischen den Pflanzen am Fuß des roten Felsens. Er lag, zu einem formlosen Haufen zusammengesunken, am Boden. Gildoran beugte sich ärgerlich und zugleich voller Angst über ihn. Lori war es schlecht geworden, und der Kapitän hätte wissen müssen, daß es auch ihm schlecht werden könnte. Er hätte nicht allein losgehen sollen. Wie hätte ihn bei einem Hilferuf jemand hören können? Während Gildoran diesen ärgerlichen inneren Monolog in seinem Kopf abspulen ließ, kniete er sich neben die reglose Gestalt, knöpfte ihr die Jacke auf und schob seine Hand über das Herz, um hilflos nach einem Herzschlag zu suchen. Er wußte jedoch bereits, daß der Kapitän tot war.
„…Deshalb können wir nicht wieder hinunter, bis wir wissen, woran er gestorben ist“, waren Gildorans abschließende Worte.
Ramies sanfte Mandelaugen trugen einen zärtlichen und unendlich traurigen Ausdruck. „Ach, die arme, arme Gilrae!
Sie standen sich so nahe, Gildoran, sie standen sich schon immer so nahe. Ist sie darüber hinweggekommen?“
„Soweit das möglich ist, nehme ich an“, sagte Gildoran düster.
Die Erinnerung an Raes schmerzverzerrtes, blasses, verstörtes Gesicht und ihre hilflosen Versuche, sich zusammenzunehmen, verfolgte ihn. Sie hatte als zweiter Offizier das Kommando über die Samtfalter, bis ein neuer Kapitän gewählt werden konnte, und obwohl die Gesetze der Späher verlangten, daß innerhalb von drei Tagen Schiffszeit ein neuer Kapitän bestimmt werden mußte, so waren für sie doch erst einmal diese drei Tage zu überwinden.
Er war still und dachte an die letzte anstrengende halbe Stunde, die sie noch auf der grünen Welt blieben; an die niederdrückende Aufgabe, Gilhart an Bord zu tragen, die durch die schreckliche Notwendigkeit noch erschwert wurde, ihn auszuziehen und seine Kleider nach einer möglichen Todesursache abzusuchen – ein giftiges Insekt oder Tier, das ihn vielleicht gebissen hatte und noch in seinen Kleidern versteckt war. Es war
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