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Reise ohne Wiederkehr

Reise ohne Wiederkehr

Titel: Reise ohne Wiederkehr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Corinna R. Unger
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zahlreichen Hilfsorganisationen, die sich für Exilanten und Verfolgte einsetzten, ganz wesentlich von Frauen geleistet.
    Seit 1937 (dem selben Jahr, in dem sie ausgebürgert wurde) konnte Hannah Arendt wieder wissenschaftlich arbeiten. Sie hielt Vorträge und beendete ihr Buch über Rahel Varnhagen. Dabei handelte es sich um die Lebensgeschichte einer deutschen Jüdin aus der Romantik, wie es im Untertitel heißt. In der Studie setzte sich Arendt mit der Assimilation des deutschen Judentums und der Selbstverortung jüdischer Individuen in der antisemitischen Mehrheitsgesellschaft auseinander – also mit einem Problem, das unmittelbar die gegenwärtigen politischen Entwicklungen wie auch ihre eigene Biographie berührte. Nebenher arbeitete sie für die Jewish Agency of Palestine und einen Suchdienst für internierte Deutsche und Österreicher in Frankreich. 1940 wurde Arendt selbst interniert. Die Inhaftierung im Lager Gurs empfand sie als vollständige Entrechtung – eine Erfahrung, die ihre philosophische Arbeit nachhaltig prägte. Nach einigen Monaten konnte sie aus dem Lager fliehen und mit ihrer Mutter und ihrem zweiten Ehemann, Heinrich Blücher, den sie in Paris kennengelernt hatte, über Lissabon in die USA entkommen.
    In New York schrieb sie Kolumnen für jüdische Zeitschriften. Mit ihren Artikeln wollte sie die jüdische Öffentlichkeit für die politischen Probleme und Herausforderungen der Gegenwart sensibilisieren, sie für den Zionismus gewinnen und von der Bedeutung einer eigenen jüdischen Armee überzeugen. Die zionistischen Ziele, für die sie eintrat, entsprachen jedoch nur bedingt dem religiös begründeten Zionismus, den viele Juden in den Vereinigten Staaten bejahten: Sie glaubte nicht an die „Auserwähltheit“ des jüdischen Volkes und setzte |93| sich für einen föderativen jüdischen Staat in Palästina ein, der allen Bewohnern gleiche Rechte gewähren sollte. Hannah Arendt scheute sich außerdem nicht, das Verhalten der jüdischen Flüchtlinge im Exil zu kritisieren. Ihr in der Einführung zitierter Artikel „We Refugees“ (vgl. S. 11–12), den sie 1943 in einer jüdischen Zeitschrift veröffentlichte, ist charakteristisch für die Offensivität, mit der sie ihren Standpunkt vertrat. In dem Artikel warf sie den jüdischen Exilanten vor, dass sie das ihnen widerfahrene Unrecht zu bereitwillig verdrängten und sich zu sehr auf die Bewältigung des Exilalltags konzentrierten. Um sich möglichst reibungslos in die Gesellschaft des Gastlandes einzufügen, seien sie bereit, die eigene Diskriminierung und Verfolgung eilfertig zu akzeptieren. Mit dieser Anklage verbunden war eine generelle Kritik am Verhalten der europäischen Juden, die mit ihrer ausgeprägten Assimilationsbereitschaft versucht hätten, gesellschaftliche Anerkennung zu finden; darüber hätten sie ihre Identität eingebüßt, meinte Arendt. Ihr zum Teil polemischer Beitrag brachte der Autorin empörte Kritik aus den Kreisen des jüdischen Exils ein. Viele hielten es moralisch für verwerflich, zu einer Zeit, da die Juden Europas verfolgt und ermordet wurden, deren Verhalten zu kritisieren oder gar zu suggerieren, sie trügen eine Mitverantwortung an ihrem Schicksal. 48
    Trotz dieser Spannungen arbeitete Hannah Arendt auch in den folgenden Jahren für jüdische Institutionen: Erst als Lektorin beim Schocken-Verlag und Ende der Vierzigerjahre als Geschäftsführerin der Commission on European Jewish Cultural Reconstruction. Ihr Ehemann konnte erst seit Beginn der Fünfzigerjahre an einem College unterrichten, sodass sie bis dahin allein für den Unterhalt ihrer Familie aufkam. Nachdem sie 1951 ihr berühmtes Buch
The Origins of Totalitarianism
veröffentlicht hatte, erhielt sie mehrere Gastprofessuren an renommierten amerikanischen Universitäten. 1963 erschien ihre Reportage über den Eichmann-Prozess, und 1967 übernahm sie eine Professur an der New School for Social Research.
    Zwei Jahre später gab sie postum einige der Schriften Walter Benjamins heraus, mit dem sie sich während des gemeinsamen Pariser Exils angefreundet hatte. In seinem Selbstmord an der spanischen |94| Grenze erkannte sie sein Eingeständnis, dass er in der Neuen Welt nicht zurechtkommen würde, „[d]enn er lebte in einer Welt-Enklave aus Büchern, aus Büchern des alten Europa. Diese Bibliothek war bereits von der Gestapo konfisziert worden. Damit war zugleich der gewichtigste Teil seiner Identität konfisziert. Was sollte Walter Benjamin,

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