Reise til helvete
Fingerknöcheln war die oberste Hautschicht abgeschürft. Sogar die Tattoos an seinen Fingern waren blutbefleckt. Vermutlich hatte er sich bei dem Kampf mit dem Hai ebenfalls verletzt. Doch er hatte es nicht erwähnt, sich um die eigenen Wunden nicht gekümmert. Nun war das Blut getrocknet und erinnerte unbeabsichtigt an den aufregenden Nachmittag.
„Du hast das mit Magnus noch immer nicht verkraftet, stimmt’s?“ Dylan war sich plötzlich sicher, den Grund für Thors Verhalten zu kennen. Ihm fiel der merkwürdige Anruf in Magnus’ Zimmer ein und die Fotos von Magnus’ Leichnam. Thors Haltung änderte sich nicht.
„Wir sehen uns morgen, Perk. Ich möchte momentan nicht darüber sprechen.“
„Tja!“ Dylan hob die Hände resignierend empor. Die Enttäuschung in ihm nahm überhand. „Komischerweise ist bei dir nie der richtige Moment, um über alles zu sprechen.“
*
Viel langsamer als vorher nahm Dylan den Weg zurück zum Lager. Die letzten Meter schaffte er nur unter enormer Kraftanstrengung. Der Schmerz war ihm ins Gesicht geschrieben und es war nicht nur die körperliche Pein, die ihm zusetzte.
„Du solltest mit dem Fuß nicht herumlaufen“, sagte Tony. „Der Verband sieht schon wieder blutig aus.“
„Ich weiß …“ Dylans Stimme war kaum hörbar. Ächzend nahm er Platz und füllte sich einen Becher mit Wasser. Hatte Thor eigentlich Verpflegung für die Nacht mitgenommen?
„Dein Leibarzt hat wohl das Weite gesucht?“ Tony grinste. Machte er sich lustig oder wollte er die Stimmung aufhellen? Dylan zweifelte inzwischen an seinen Wahrnehmungen. Er hatte das Gefühl, als könne er sich selbst nicht mehr trauen. Sein eigenes Handeln war nicht mehr logisch, oder doch? Er rieb sich die Stirn und bemerkte, dass die oberste Hautschicht abblätterte.
„Er nimmt eine Auszeit … bei der Lagune.“
„Das muss ihm hier auch mächtig auf den Sack gehen mit uns“, erwiderte Tony. Da wurde Dylan hellhörig. Wie kam es, dass ausgerechnet Tony Thors Verhalten nachvollziehen konnte? Nach all den Wortgefechten, die sie miteinander hatten? „In Norwegen ist er ungestört und hier geht alles drunter und drüber.“
Er beugte sich vor, wobei sein langes, schwarzes Haar nach vorne glitt. Der Bart in seinem Gesicht war inzwischen dicht gewachsen. Schwarz zierten die Haare sein Antlitz. Da er spanische Vorfahren hatte, war er von Natur aus dunkler als die anderen, sein Haarwuchs kräftiger. Tony störte das offensichtlich nicht. Auch nicht, dass er den fünften Tag in denselben Klamotten steckte, keine Dusche nehmen oder in einem bequemen Bett schlafen konnte. War es soweit? Hatte er sich mit ihrer Lage abgefunden? Woher nahm er die Kraft, die in Dylan schon seit Langem verloren gegangen war?
Augenblicklich fiel ihm der Schlag ein, der Thor einen regelrechten Aussetzer verpasst hatte. Das war wiederum einzigartig gewesen, nahezu beängstigend.
„Was habt ihr mit dem Hai gemacht?“
Eine bedrückende Frage, die Dylan aus seinen Gedanken riss.
„Der liegt noch am Strand.“
„Haifilet soll gut schmecken“, erwiderte Tony.
„Ja, wir wollten ihn ja auch eigentlich noch herbringen, aber …“
Dylan unterbrach seinen Satz. Was stattdessen geschehen war, schürte erneutes Feuer in ihm.
„Ich werde den Braten holen.“ Tony kam auf die Beine. „Wo genau liegt er?“
Dylan deutete hinter sich.
„Geradeaus, hinter den Palmen, am Strand, halte dich etwas links.“ Er machte Anstalten aufzustehen. „Ich komme besser mit.“
„Kommt nicht infrage!“ Tony drückte ihn nach unten. „Mit deinem Fuß läufst du nicht mehr herum. Außerdem muss jemand bei Erik bleiben.“
Unsicher spähte er in die Dunkelheit. „Ich werde das schon finden.“
Es dauerte lange, bis Tony zurückkam – den Hai dabei im Schlepptau.
„Puh, ganz schön schwer, das Vieh! Und der Weg …“ Er winkte ab. Unschwer war zu erkennen, wie abgekämpft er war.
Tony japste, als er den Fisch ein letztes Stück zog und neben dem Lagerfeuer drapierte.
Dylan riskierte nur einen flüchtigen Blick. „Ist er tot?“
„Ja.“
„Ist dir Thor begegnet?!
„Nein.“
Sie beugten sich gemeinsam über den Fang.
„Ich muss gestehen, ich habe zuvor noch keinen Fisch ausgenommen.“ Tony kratzte sich das bärtige Kinn. „Zuhause kommt der Fisch aus dem Froster.“ Er lachte leise.
„Thor schneidet Kopf und Flossen ab und entfernt dann die Eingeweide …“ Dylan sah sich um. In dem Berg von Geschirr suchte er ein Messer heraus.
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