Reise zu Lena
zurück, und es erschien ihm so schrecklich, als wäre es gestern geschehen. Nun war er ein alter Mann und musste sich die größte Mühe geben, vor seinem Ende sein Leben anzunehmen, wie es war.
Er war wohl bei Licht eingeschlafen. Mitten in der Nacht blickte er sich verwundert um, rieb seine verweinten Augen: Das Zimmer war hell erleuchtet. Er setzte sich langsam auf, saß am Bettrand, die Beine fühlten sich taub an. Der alte Mann spürte, wie sein Gesicht einen strengen Ausdruck annahm: So nicht, dachte er. So wollte er sein Leben nicht beenden, er, der nur noch das Gnadenbrot des Großen Herrn aß, demütig, voll der Dankbarkeit, kriechend, sich in Ehrfurcht am Boden windend. Die Wut kroch in seinen Schädel, wich in seine Glieder, packte den ganzen Körper. Er sprang auf, wühlte mit beiden Händen in seinem Haar, blickte zornerfüllt nach oben.
Unruhig trieb es ihn durch das Haus, er sprang, so gut er es vermochte, von Stockwerk zu Stockwerk, riss die Türen zu den Mansardenzimmern unter dem Dach auf, in denen die Kinder herangewachsen waren, schaltete überall, an jeder Stelle, die er fand, das Licht ein. Das ganze Haus sollte von oben bis unten hell erstrahlen. Er wollte die Dunkelheit, diese ewige Finsternis aus den Räumen, die ihn umfingen, vertreiben. Ja, das wollte er, und wenn es nach seinem Willen ging, ein für alle Mal.
Der alte Mann erhob seine Stimme, rief nach allen Seiten, verstärkte den Klang, schrie lauter und lauter, ja es brüllte aus ihm heraus:
»Ich kündige, ich kündige den Vertrag, ich kündige fristlos, ich kündige wegen Irreführung, bösartiger Irreführung, wegen Betrugs, wegen Unterschlagung, Unterschlagung meines Lebens, wegen Häme und Willkür, vor allem aber, weil Du das Liebste, das ich hatte, mir genommen hast, um Dich umso leichter an einem weiteren Opfer Deiner Gier zu erfreuen! Ich klage Dich des Totschlags, des hinterlistigen Mordes an! Mein Leid ist Deine Freude. Du erwartest Demut und Hingabe, um Dich umso selbstherrlicher an uns zu bedienen. Blut klebt an Deinen Händen! Blut klebt an Deinem Mund, gewaltsam und gefräßig, wie das schlimmste Tier sich nicht zeigt. Du lässt die Menschen sich untereinander zerfleischen, der Mann die Frau, die Frau das Kind, der Sohn den Bruder, der Bruder den Vater. Die Nationen prügeln auf Dein Geheiß aufeinander ein, Du hetzt den einen gegen den anderen auf, bis Deine Völker heiß sind vor Wut, vor Verzweiflung, vor Angst und Blindheit und sich gegenseitig niedermetzeln in einen Abgrund von zerfetzten Leibern, übersät mit Schweiß, klaffenden Wunden, deren Blut Deine Erde düngt, dass der Gestank wie in einer Giftblase himmelwärts getragen wird, um Dir zu gefallen und Dir zur Freude! Tausende sind es gestern gewesen, heute Millionen, morgen werden es Abermillionen sein. Du gabst und gibst Deiner Kreatur, Deinen Kindern, die längst Stiefkinder sind, die Spielzeuge des Todes in die Hand: Erst waren es Speere, Lanzen, Säbel, dann Gewehre, Kanonen, Geschosse, aus der Luft, unter dem Wasser, über der Erde. Du lässt zu, wie sie Dir zu Gefallen ihre Mordwerkzeuge mehren und mehren, anhäufen wie den Besitz aus Gold und Diamanten, der Macht über die ganze Erde nahe, um für den nächsten Schlag gerüstet zu sein. Endlich kommt die große Stunde: die große, unvergleichliche, einmalige Bombe, geschaffen von einem Genius, der Dir gleicht und die alles Leben atomisiert. Es werden Abermillionen krepieren, Menschen aller Farben, alles Getier, Riesenstädte mit ihren Wolkenkratzern werden zusammenfallen wie Kartenhäuser, alles, was atmet unter sich begraben, weite Landstriche werden zu Tod erstarren, überschwemmt von reißenden Fluten, die neue unbekannte Meere eröffnen und unschuldige Kinder, ahnungslose Frauen, Greise in den Abgrund reißen. Das Krepieren wird sich fortsetzen nach Ost und West, nach Nord und Süd. Die Erde ist endlich wieder das, was sie am Anfang einmal war, wieder wüst und leer. Wir werden verschwunden sein, wir Menschen! Aber vergiss nicht, Du stirbst mit uns. Endlich ist es erreicht: Wir sind das Opfer, wir alle, die Menschheit, aber auch Du bist geschaffen, von uns, wie Du uns geschaffen hast. Und mit Dir Deine Verkünder, die echten Verkünder und die falschen, die aufrichtigen und die scheinheiligen Verkünder. Du reißt Deine Brut wie ein Diktator, ein Despot mit Dir in den Abgrund. Der langersehnte, heißersehnte Frieden kann endlich Einzug halten, für alle Tage und Ewigkeiten! Sprach nicht Moses:
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