Reise zu Lena
daran, ein neues Leben anzufangen. Es warten noch viele schöne Dinge auf Dich, da bin ich sicher. Du musst es nur wollen . . .«
»Meinst Du wirklich? Du machst mich so glücklich, mehr als Du denken magst!«
Sie presste den alten Mann an ihren warmen Körper, er, der für einen Augenblick glaubte, die Fassung zu verlieren.
Christie war Glories beste Freundin, ihre engste Vertraute fast ihr Leben lang, ihre Begleiterin, die Schwester, die Glorie nie geschenkt worden war. In ihrer Kindheit wurde Christie der ganzen Familie lieb, damals auch Ann, ein Teil der Familie. Später vermochte es Ann immer weniger, sich von Eifersucht freizumachen: Die Nähe der beiden Mädchen, ihre Blutsschwesternschaft, ihre Geheimnisse quälten sie. Ann stand vor einer Tür, von der sie glaubte, dass sie für sie fest verschlossen war. Anton, der ältere Bruder, schwärmte dagegen für die Freundin der Schwester, die so oft es nur möglich war bei ihnen blieb und in Glories Zimmer mit ihr im Bett zusammen schlief. Er liebte ihr oft unbändiges Temperament, ihre wild zerzausten Locken, den hellen, schallenden Ton ihres Lachens. Aber auch Anton hatte keine Chance, die beiden Mädchen waren zu sehr mit sich selbst beschäftigt. Anton fühlte sich wie das überflüssige Rad am Wagen, fühlte sich auch vernachlässigt von seinem Vater. Für den aber strahlte das Haus in der Schönheit der zwei Freundinnen wider, Albert sah das Glück der beiden und empfing es in seiner Seele. Nie war er so beschenkt worden. In den Zwischentönen des Lebens, von denen er reichlich genug erlebt hatte, erschien ihm mit einem Mal und unverhofft dieser Lichtstrahl, der lange genug währte und der, als er so plötzlich erlosch, ihn umso mehr in jähe Dunkelheit verstieß. Von dem Verlust, der ihn zutiefst im Herzen traf, hatte er sich niemals wieder erholt.
Albert lag noch spät wach und dachte nach, er konnte nicht, er wollte nicht schlafen. Die Ankunft von Christie in der Stadt, diese Nachricht hatte ihn elektrisiert, die kaum verheilte Wunde war wieder aufgerissen. Er hatte versagt und Christie war geflohen, weil sie das Unheil nicht länger ertragen konnte. Sie hatte sich in eine neue Aufgabe gestürzt, weit weg, pflegte alte Menschen, Kinder, Sterbende in Afrika. Jetzt aber war sie wieder aufgetaucht, ohne jede Vorankündigung, so unerwartet.
Immer wieder das Wallis! Albert hatte ja selbst den Weg gewiesen. Er, der die Bergluft liebte, die Weite der hohen, meist schneebedeckten Gipfel. Glorie teilte seine Leidenschaft für ihr Dorf dort oben, zu einer Zeit, als sich kaum ein Fremder dorthin verirrte. Anton war bald eigene Wege gegangen, in den Ferien ein Zeltlager in der Bretagne, die Eroberung Griechenlands, vor allem seiner Inseln. Ann nahm es hin, spielte Bridge im kleinen Gasthaus mit französischen Damen, dort, wo sie gerne zu Abend aßen. So hatte er tagsüber die Berge und die beiden Mädchen für sich allein. Oft sprangen sie wie Geißen aufwärts ihm voran, machten große Schritte, wollten ihn herausfordern, seine Kraft und seine Vernunft, die immer wieder zur Vorsicht mahnte. Ihre weiten Röcke blähten sich im Wind und gaben den Blick auf die schlanken, braunen Beine frei.
Je mehr die Krankheit sie an sich riss, umso mehr suchte Glorie Schutz in dem Dorf ihrer Kindheit. Hier fand sie wohl noch so etwas wie Ruhe, gelegentlich begleitet von einem Mann, der aber wie alles andere nicht von Dauer, nur eine Episode blieb, gelegentlich fuhr sie mit Christie. Dann kamen die Reisen hinüber zu den karibischen Inseln, wo sie das Tauchen lernte. Hier sollte dann auch der Endpunkt der Tragödie sein. Glorie, die sich mehr und mehr vor ihm und der Welt verschloss, er hatte sie am Schluss verloren. Zu Hause tauchte sie immer seltener auf. Sie müsse ihren Weg allein gehen, so sagte sie. Und er wollte oder konnte nicht verstehen, was sie damit meinte. Wer hatte sie auf ihrem letzten Weg begleitet? War sie allein? Als sie starb, war da jemand, ein Freund, vielleicht ein Fremder, an ihrer Seite? Tod durch Ertrinken! War sie nicht eine geübte Schwimmerin, eine passionierte Taucherin? Und sie starb, wie er nach langwierigen Recherchen erfahren hatte, in voller Ausrüstung, mit der Sauerstoffflasche auf dem Rücken. Der Anruf von Christie, kaum ein Wort der Erklärung, danach war sie nicht mehr zu sprechen. Sie, die enge Vertraute der Familie, versagte dort, wo man sie am meisten gebraucht hätte. Hatte sie ihn etwa belogen? Das alles lag über zwei Jahre
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