Reise zu Lena
schauen, schauen, wie Du allein zurecht kommst. Es ist sicher nicht leicht für Dich so ohne . . .«
»Ohne Ann, willst Du sagen«, fiel ihm der alte Mann ins Wort. »Ja, Ann. Man ist aneinander so . . .«
»Gewöhnt?« unterbrach ihn Erwin.
»So in etwa.« Er musste sich zwingen, sich nur nicht zu schnell in die Karten schauen zu lassen. Der Freund konnte plaudern.
»Na ja, mein Lieber, Du bist nicht ganz gesund. Ich weiß, diese Krankheit, sie plagt Dich jeden Tag mehr, und jede Stunde anders: Mal schlägt sie heftig zu, dann wieder macht sie sich unsichtbar.«
»Ganz schön heimtückisch! Du meinst, ich brauche Hilfe. Mach Dir keine Sorgen, ich schaffe das schon alleine, es fehlt mir an nichts.«
Sie waren in den Garten hinausgetreten. Erwin nahm Rücksicht, sie gingen gravitätisch nebeneinander über den Rasen, obwohl es schon anfing, frisch zu werden, setzten sich hinten auf die alte Holzbank zwischen den Büschen. Dort hatte man den schönsten Blick auf das Haus, das sich hübsch zwischen der hellgrünen Weide und den Birken mit ihren lieblichen weißen Stämmen ausmachte.
»Das hört sich verdächtig gut an.« Erwin lachte: »Und was gibt es sonst noch zu berichten?«
Albert lächelte zurück:
»Wovon sprichst Du?«
Nun grinste Erwin:
»Wenn Du es nicht weißt, wie soll ich es wissen.«
»Sprechen macht nicht alles besser. Ich fürchte, ich spreche schon zu viel mit mir selbst.«
»Mach es wie ich, denke an nichts.«
»Das habe ich schon mal gehört, aber es ist sehr schwer. Gut: Es ist nichts, es ist nichts, es ist . . .«
Der Freund sah ihn abwartend an:
»Weißt Du, manchmal zweifele ich an meinem Beruf: Je älter ich werde, umso mehr erkenne ich, dass den Menschen kaum zu helfen ist: Ich kann ihre Geschichte nicht aufhalten, das Schicksal nicht auf den Kopf stellen, bestenfalls das Bewusstsein verändern. Wir kennen unseren Partner, die Familie, den Freund, den Kollegen, wir kennen sie alle gut, am besten den Feind, aber am wenigsten kennen wir uns selbst: Du bleibst Dir ein ewig Unbekannter. Du willst Dein Rätsel lösen, aber mit welchem Erfolg? Schon lustig, Dir bewusst zu machen, dass Du im Körper eines Fremden, über den Du vielleicht noch dazu falsche Vorstellungen hast, durch das Leben gehst.«
Der alte Mann schlug sich die zitterige Hand auf den Schenkel:
»Vergiss Gott und Du bist ein Stück weiter! Wenn Du der Dreiecksbeziehung ledig bist, lässt sich die Sache schon leichter an. Dann gibt es nur noch Deinen Fremden und den, der Du glaubst zu sein. Ein Gespräch zu zweit lässt sich einfacher führen, man lernt sich besser kennen, Du schämst Dich weniger, dass Du unter Deinen Kleidern nackt bist und Dir eingestehen musst, dass Dein Körper etwas ganz anderes möchte, als Dein Kopf.«
Erwin stand hoch aufgerichtet vor ihm:
»Was ist geschehen? Hat bei Dir der Blitz eingeschlagen? Oder habe ich mit dem Nietzsche im Gepäck Dich verführt?«
Sie hatten die Wanderung durch den Garten wieder aufgenommen, Albert seinen Arm stützend am Ellenbogen des Freundes, es wurde langsam dunkel. Erwin hielt inne, griff nach seiner Hand:
»So, jetzt meinst Du plötzlich, Gott sei tot?«
»Das muss jeder für sich selbst entscheiden. Neu dürfte Dir der Gedanke aber nicht sein.«
»Ich weiß nicht, ich weiß es nicht: Selbst wenn Gott schon eine geraume Zeit tot sein sollte, fühle ich doch immer wieder, dass da noch etwas ist, nenn es Ursprung, auf alle Fälle ein umfassendes Wesen, dessen Atem weit länger dauert als der unsere.«
»Zu dem Du beten kannst?«
»Du bist heute ironisch aufgelegt. Und wenn ich Dich ärgere: ja, zu dem ich zur Not beten kann.«
»So ungefähr lautet wohl das Sprichwort: In der Not lernt der Mensch beten! Du vergisst ihn, lässt ihn einen guten Mann sein und wenn Du ihn brauchst: Wuppdich kommt er aus der Kiste. Ziemlich mies, findest Du nicht? Ein Rettungsanker also, wenn der Mensch alleine nicht mehr weiter weiß, ein Reserve-Gott.«
»Ich bleibe dabei, trotzdem. Und Du?«
»O.k.! Wenn es sein muss: Wenn ich über ihn schimpfen kann, über ihn zu Gericht sitzen darf wie er über mich: einverstanden.«
Erwin lachte schallend:
»Damit bist Du ein Abtrünniger: ein Kumpel, Gott als Kumpel! Du gehst einen guten Schritt weiter.«
Albert fiel lauthals in das Gelächter ein:
»Zu weit, meinst Du wohl. Und dann kommt der Abgrund . . .«
»Amen! Jetzt ist es wohl Zeit, in Deinen Weinkeller hinunterzusteigen.«
Sie saßen in der Bibliothek, der alte Mann
Weitere Kostenlose Bücher