Reise zu Lena
Herr, sende mich nirgends hin, Du wolltest denn nicht selber mitkommen. So soll es am Ende geschehen! Das ist unser gemeinsames Opfer wert: Halleluja! Halleluja, Halleluja! Du sagtest: Ich bin der Erste und der Letzte!« Albert rang nach Luft, erschöpft ließ er sich auf die Stufen der Treppe fallen, seine Finger flatterten:
»Einst warst Du in mir und ich in Dir: So wurdest Du zur Welt, nicht aber die Welt zu Dir. Aber Du ließest uns hinaustreten aus dem Bund, Du hast Dich verändert in einen fremden Gott und jedes Unheil nahm seinen Lauf.«
So hockte er kauernd, der Kopf war schwer, wie betäubt. Jedoch mit jeder Minute, die verstrich, überzog ihn ein ungewohntes Glücksgefühl. Seine Glieder zitterten, aber es legte sich etwas wie ein Strahl auf sein Gesicht, das Blut schoss schneller durch seine Adern, der Körper glühte. Er hatte es gewagt, er hatte es gesagt, getan! Er hatte aufbegehrt, er hatte den Aufstand erfolgreich zu Ende geführt. Ja, es war geschehen! War er frei? Er wagte es kaum zu begreifen, er fühlte sich wie ein langjähriger Häftling, dem man die Ketten abgenommen hatte. Konnte es wirklich sein: War das Wirklichkeit, kein verräterischer Traum, der ihn bald zurückstoßen würde in sein altes Verlies? Nein, er selbst hatte sich mit eigenen Kräften befreit, nicht Gott, der Allmächtige! Er war es selbst, kein Zweifel, das Glück in ihm wollte nicht weichen. Oder hatte der Listige, der da Oben, vielleicht doch wieder seine Hände mit im Spiel? Er wollte es nicht denken, es sollte nicht sein: Niemand sollte seinen Sieg über sich selbst in Frage stellen, keiner, auf Erden nicht und auch sonst nicht.
Er erhob sich, stieg die Treppe nach oben, ließ die Helligkeit zurück und legte sich glücklich und ermattet auf sein Bett, wo ihn sogleich ein tiefer, fester Schlaf umfing.
Die nächsten Tage verbrachte Albert wie im Rausch, er verließ erstmals seit langem das Haus, setzte den weißen Panamahut auf, den sie vor etlichen Jahren auf einer Bootsreise erstanden hatten, band sich unverdrossen eine karierte Krawatte zum Sommeranzug um, die etwas ungelenk und schief ihren Platz fand. Das niedrige Gartentor quietschte, als er es öffnete; ein paar Tropfen Öl würden den Scharnieren gut tun. Die Bäumchen rechts und links der Straße waren gut angewachsen, Ahorn, wenn er es recht erkannte. Die Häuser, hier und dort, hatten wohl einen neuen Anstrich erhalten, hübsch sahen die niedrigen Bauten zu ihm herüber. Albert blieb stehen, betrachtete neugierig die Blumen in den Vorgärten, Rosen, Tulpen, sogar Lavendel, Margeriten. Wir müssen uns ein wenig anstrengen, wenn wir mithalten wollen, dachte er.
Albert nahm dankbar auf der Holzbank an der Straßenecke Platz, die hier neu aufgestellt worden war, ließ sich von dem alten Mann, der dort schon saß und der seinen Gruß mit einem Grunzen oder leichten Knurren erwidert hatte, nicht die Laune verderben, musterte aufmerksam den Nachbarn, der mit gebücktem Rücken, die Hände auf einem Stock versammelt, trübe vor sich hinsann. Zwei, drei Autos glitten langsam vorbei, die Farben, rot, blau, glänzten in der Morgensonne:
»Ein schöner Tage heute, nicht wahr?«
Die Antwort ließ auf sich warten, der Alte rührte sich nicht. Albert wollte so schnell nicht aufgeben:
»Die Sonne tut gut nach all dem Regen! Ich glaube, das schöne Wetter wird halten, was meinen Sie?«
Der Nachbar zeigte keine Bewegung. Ob er in meinem Alter ist, vielleicht sogar mein Jahrgang, dachte Albert, als er langsam aufstand, wobei er sich auf seinen Spazierstock, den mit dem Silberknauf, ein Geschenk von Glorie, den er nur für besondere Fälle herausholte, stützte:
»Ich wollte nicht stören. Noch einen schönen Morgen!«
Schon abgewandt hörte er die Stimme hinter sich, kaum vernehmbar, aber hell:
»Auch Ihnen einen guten Morgen!«
Er rief zurück:
»Vielleicht sehen wir uns hier einmal wieder!«
Er sah das Gesicht des Alten, Runzeln, Falten, die kleinen Augen zwischen den aufgedunsenen Zügen.
Eine harte Nuss, dachte er.
Dem kleinen Lebensmittelladen um die Ecke war es gelungen, sich am Leben zu erhalten, trotz der beiden nahe liegenden Supermärkte, wo sich die Kunden den Gepäckraum mit Waren von oben bis unten vollstopften. Pensionäre wohnten in dieser Gegend vornehmlich, aber auch junge Eltern mit Kindern, die sich jetzt wohl in der Schule befanden, um eine fast lähmende Stille in den schmalen Straßen des Vororts zurückzulassen. Im Lädchen wurde er von der
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