Reise zu Lena
betagten Frau Huber, an deren Namen er sich glücklicherweise erinnerte, freundlich begrüßt:
»Welche Überraschung, der Herr Direktor persönlich! Wir hatten lange nicht die Ehre . . .«
Er zog den kleinen Zettel aus der Tasche, auf den Irma gut leserlich die wichtigsten Einkäufe notiert hatte. Er verlangte auch zusätzlich Pfefferminztabletten, dunkle Schokolade, die er schon lange nicht mehr gekostet hatte, und einen trinkbaren Cognac, den er zufällig im Regal entdeckt hatte, und zog mit gutgefülltem Korb nach Hause. Von der Bank, wo er noch selbst vor kurzem sich ausgeruht hatte, sah der Alte stumm zu ihm herüber, immer noch die Hände auf seinen Stock gestützt. Doch Albert glaubte, ein Nicken seines Kopfes erkannt zu haben, vielleicht stand ihm sogar ein verhuschtes Lächeln auf dem Gesicht.
Zu Hause legte er die Beine hoch, erschöpft, aber zufrieden, auf dem Kanapee in der Bibliothek, als das Telefon läutete; es war Ann.
»Was machst Du, Albert, so ganz ohne mich, die Sorgen begleiten mich stündlich, lassen mich nicht los, obschon es von hier Schlimmeres zu berichten gibt. Ich bin, weiß Gott, eher zu spät als zu früh angekommen. Und, bitte, Du musst damit rechnen, dass es einige Tage länger dauert. Ich glaube, es geht mit der Armen zu Ende, schneller als gedacht.«
Albert atmete tief:
»Du fehlst mir, Liebes, aber was mich anbelangt, sei unbesorgt, ich komme zurecht.«
»Irma berichtet, Du bist ausgegangen, alleine, hast Einkäufe gemacht. Sie war ganz begeistert von Dir, natürlich auf ihre spröde Art, mit zwei, drei Worten über Dich, meinte sogar, die Gute, es sei ihre Pflege . . . Nun aber das Wichtige: Kaum bin ich aus dem Haus, schon bist Du unvernünftig, unverantwortlich: Stell Dir vor, Dir geschieht etwas auf dem Weg zum Laden! Das ist nicht fair mir gegenüber, jetzt, wo Du, weiß Gott, auf mich, die ich meiner sterbenden Schwester ausgesetzt bin, Rücksicht nehmen musst!«
Albert blieb ruhig, er studierte die hohe Decke, wo der Vorbesitzer des Hauses den echten Stuck hatte anbringen lassen:
»Sei unbesorgt, ich teile meine Kräfte ein.«
»Auch das von Lori, ich meine ihren Besuch, habe ich gehört, Du hättest Dich da besser herausgehalten. Ich hatte Dich gebeten . . .«
Albert schwieg, endlich:
»Es ist nichts geschehen, was Dir Sorgen bereiten sollte. Auch was mich anbelangt, sei unbesorgt.«
Ann weinte, als sie ihm einen fast unhörbaren Gruß zukommen ließ. Sie schloss unter Schluchzen:
»Es ist zu viel, zu viel . . .«
Was ist? Irgendetwas stimmte nicht: Wo war sein Kummer, der Schmerz, die Verzweiflung? Es war offensichtlich über Nacht etwas geschehen, zumindest hatte er für eine nicht absehbare Zeit Bewährung erhalten. Morgen konnte schon wieder alles vorüber sein und das alte Loch würde ihn in bösartiger Gewohnheit schneller zurückholen, als er es verlassen hatte. Unwillkürlich musste er an seine erste Amerikareise denken: Tagelang war er durch New York gelaufen, später durch Washington, wie im Rausch, und alle Sorgen hatte er hinter sich gelassen. Und dann, nach ein paar unglaublich glücklichen Tagen war er wieder der alte Kummerer, wie zuvor. Es war, als ob er seinen Schatten verloren hätte, der ihn nun wieder eingeholt hatte. Aber jetzt, heute, ging er unbeschwert durch die Welt, befreit von dieser Zentnerlast auf seinen Schultern. Die Sonne strahlte auch dann, wenn sie nicht schien. Er lächelte, alle lächelten. Selbst das sonst so griesgrämige Paar vom Nachbarhaus grüßte zurück. Er bekam Irma zum Sprechen, ein Wunder, wie seit Jahren nicht. Sie erzählte von Arztterminen, ihrem schmerzenden Rücken, den geschwollenen Füßen. Er gab Ratschläge, so gut er es konnte.
Er begann Tagebuch zu schreiben, gleich an diesem Morgen, seine Schrift war klein und kraklig. Er war wieder im Besitz seiner Tage, und selbst die Nächte schienen weniger bedrohlich. Wenn er kurz erwachte, sagte er sich in aller Ruhe: Bald wird es wieder hell. Die Nachttischlampe ließ er bis zum Morgengrauen brennen. Er hörte wieder Musik, Barockmusik, Schubert, Brahms, Mahler, Strawinsky, aber auch Modernes aus dem Radio. Fuhr mit dem Taxi zu einem Geschäft, das CDs verkaufte und seit seinem letzten Hiersein seine Verkaufsflächen mindestens verdoppelt, wenn nicht verdreifacht hatte. Er ertappte sich, wie er zu Partien aus Mozarts Opern laut mitsang. Irma lauschte, hielt überrascht ihre Hand vor den Mund, ihre Augen glänzten.
Erwin kam zu Besuch:
»Ich wollte nach Dir
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