Reise zu Lena
hoch steigen, um alsbald umso tiefer zu stürzen? Waren hier nicht Teufel unterwegs, Teufelchen zumindest, die ihn herausfordern wollten? Oder steckte ein Teufelchen in ihm selbst, hatte sich dort fest eingenistet und er hatte es noch nicht wissen wollen?
Christie präsentierte sich keineswegs als die Siegerin, als die Lori sie angekündigt hatte. Sie wirkte eher scheu, blass, zögerlich. Die erste Umarmung fiel flüchtig aus, fast unkörperlich. Zwei Wesen, die zu lange an den anderen gedacht hatten, sahen sich nun über den Rücken. Christies Zustand übertrug sich auf Albert, der nur mühsam auf die Beine gekommen war und der sich ohnehin schwertat, Antons Besuch am Vorabend und das Telefonat mit Ann abzustreifen. Sie fanden kaum Worte zur Begrüßung, gingen hinüber zum angrenzenden Esszimmer, ließen sich an der großen Tafel nieder, hockten ein wenig verloren, wie zu einer angesagten Konferenz, auf den Stühlen mit den hohen Lehnen. Lori meldete sich als Erste:
»So, Vater, jetzt ist sie hier, die Heldin vom schwarzen Kontinent. Ich musste sie geradezu überreden herzukommen, wo ich doch sehr wohl weiß, wie sehr sie Dich mag.«
Wieder entstand ein lastendes Schweigen, während Albert und Christie nach den Wassergläsern griffen, die vor ihnen standen, um hastig einen Schluck zu nehmen. Seine Lähmung wollte nicht von ihm abfallen, im Gegenteil, sie wuchs. Die Worte von Lori gingen an seinem Ohr vorbei.
»Was hat Christie mir nicht alles erzählt . . . Die Weite des Kontinents, die endlosen, wilden, menschenleeren Landschaften. Und von Menschen, im Elend dicht aneinander gedrängt, von Krieg, Verfolgung, Geburt, von Tod. Und alles so hautnah, die Krankheiten, Seuchen, wo Berührung, Umarmung zum Albtraum, zum Verderben führen kann. Sie erzählte von wahnsinnigen Diktatoren und deren Todesschwadronen, die ganze Völker ausrotten, Generäle, die befehlen, ganze Landstriche unfruchtbar zu machen, damit die Menschen vor Hunger besser sterben können . . .«
Er hörte Christie lachen, unangenehm schrill, und er dachte wieder an die Trommeln in der Nacht. Dann Christies Stimme, wie er sie kannte, die ihn an Glorie erinnerte, nur heiserer, nun belegt, rauchiger:
»Lori, Lori! Was ist in Dich gefahren: Alles, was ich Dir erzählt habe in den Tagen und Nächten, stülpst Du nun über uns in wenigen Augenblicken! Sei ein bisschen einfühlender, erzähl doch von der Blume, die ich in der Wüste fand. Erzähl, dass es die Blume aus dem Märchen, die ich in der Wirklichkeit gefunden habe, wirklich gibt, erzähl, dass es Wunder gibt, erzähl von den strahlenden Kinderaugen, von einer Frau, die ich nach langer Krankheit geheilt habe, von dem Baby, das lachend in meinem Arm lag.«
Alberts Hände bewegten sich fahrig hin und her, als er mit den Fingerspitzen versuchte, den Lauf der Tränen, die ihm den Blick nahmen, aufzuhalten. Die Füße unter dem schweren Tisch wollten ihm nicht gehorchen, die Schuhsohlen klapperten gegen den Boden. Es klang so, als würden fette Ratten klammheimlich da unten hin und her rennen. Er spürte, wie Christie ihn von hinten umfing, spürte die Wärme ihres Körpers. Der Griff der Hände an seinen Schultern, der Druck ihres Leibes wurde eindringlicher, unerbittlich. Erst in diesem Augenblick machte er sich klar, dass Christie gekommen war, endlich, nach Jahr und Tag, und mit ihr ein Stück von Glorie, vielleicht ein Hauch nur, ein Strahl, ein verdeckter Blick. Die Tränen schossen nun wie ein Strom, sein Blick unter einem Wasserfall. Wie schön es doch war zu fließen, dahinzugleiten, sich zu verlieren und dabei das Schlagen der Hände, das Klappern der Füße hinter sich zu lassen. Der alte Mann lag auf seinem Kanapee in der Bibliothek, er wusste nicht, wie er dorthin gelangt war. Vielleicht hatten ihn die beiden Frauen hinübergetragen. Ob sie unter seinem Gewicht nicht gestöhnt hatten? Lori war nicht im Zimmer, sie musste das Haus bereits verlassen haben. Was würde sie nur diesmal seinem empörten Sohn erzählen? Stand er vielleicht schon wieder vor der Tür? Aber in Gegenwart von Christie würde er es nicht wagen, seine aufgestaute Männlichkeit würde unter Christies rauem, heiserem Gelächter schmelzen.
Und dann war der Gedanke da, er schoss in seinen Kopf wie ein Blitz: die Frage, die ihn seit ihrem Tod quälte, marterte, die Frage, die er Christie nicht zu stellen wagte, die er nicht stellen konnte, die Frage, die seit damals auf seiner Seele brannte und von deren Befreiung er
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