Reise zu Lena
ihn braucht, im Stich gelassen zu werden, sehr hart. Aber es mag sein, dass ich zu viel von Dir erwarte. Auch Mutter klagt über Dich. Während sie sich in Sorge um ihre Schwester und Dich zerreibt, gehst Du, wie sie sagt, leichtfertig mit Deiner Gesundheit um, bist unvernünftig, bürdest ihr, deren Sorgen schon genug sein sollten, noch neue auf. Wäre es nicht an der Zeit, mein Alter, endlich weniger an Dich und mehr an Deine Lieben zu denken?«
Anton stand schon im Türrahmen, Albert eilte hinter seinem Sohn her, kicherte:
»Ich bemühe mich, ich bemühe mich . . .«
Schon am frühen Morgen war Ann am Telefon. Albert lag noch im Bett, als das schrille Läuten durchs Haus schallte:
»Ja«, sagte sie mit schwacher Stimme, »ich habe nicht gut geschlafen, zwei, drei Stunden vielleicht. Nein, Du darfst meine Worte nicht zu sehr auf die Goldwaage legen. Ihre Krankheit nimmt mich doch mehr mit, als ich befürchtet hatte. Und mir wird hier deutlich, deutlicher was ich an Dir habe, mein Lieber. Um Dir das zu sagen, rufe ich bei Dir heute früh an. Hast Du gehört, Albert?«
Er räusperte sich:
»Ja, ja, natürlich. Das ist lieb von Dir, gut zu hören. Dank Dir! Ann, soll ich nicht doch . . .«
»Nein, auf keinen Fall. Ich werde schon mit der Situation hier fertig. Denk Dir, nun ist es sie, die sich selbst anklagt! Sie meint, diese Krankheit habe bei ihr so zugeschlagen wegen des Lebens, das sie geführt hat. Sie, die die Schönste unter uns damals war. Wie haben wir sie beneidet! Sie bereut nun all diese Männer, denen sie sich an den Hals geschmissen hat, ihren, wie sie sagt, liederlichen Lebenswandel. Sie hätte mir und Vater vieles verschwiegen. Ich kann ihr das nicht ausreden. Ich bin so schwach. Was meinst Du, Albert?«
»Dass sich der Körper dagegen wehren könnte, wenn die Seele des Menschen beeinträchtigt wird, wenn sie leidet, wenn sie nachhaltig unterdrückt wird? Vielleicht, vielleicht . . . aber es gibt dafür keine rechten Beweise.«
Er hörte, wie Ann auf der anderen Seite der Leitung tief Atem holte:
»Wir hatten doch einmal ein Buch darüber mit wissenschaftlichen Thesen, Beispielen. Ich wollte es zu Mary mitnehmen. Ich fand es nicht bei der Abreise. Weißt Du, wo es sein könnte?«
»Du hast es gekauft, um zu erfahren, ob zwischen meiner Krankheit und meinem Leben, so wie ich es geführt habe, vielleicht ein Zusammenhang besteht, ob . . .«
»Man will doch verstehen, wenn man vielleicht etwas falsch gemacht hat. Ich will doch auch Dir gerecht werden. So gut es eben geht.«
»Ich höre mehr den Vorwurf, die Klage, die schnell zur Anklage wird.«
»Albert, Guter, jetzt weiß ich nicht . . . Was willst Du damit sagen?«
Er ging aufgeregt im Raum hin und her:
»Also, wenn Du es wissen willst: Ich habe das Buch in den Abfalleimer geschmissen, vor Wochen schon!«
»In den Abfalleimer? Das ist doch sonst nicht . . .«
»Du meinst: Sonst nicht meine Art? Du wirst Dich wundern, was sonst noch alles in den Abfalleimer gehört.«
Er hörte wieder ihren Atem, stärker nun:
»Ich bin außer mir: Wovon sprichst Du?«
Seine Stimmte wurde schärfer:
»Ich sage bloß, wir sollten uns von unserem Ballast befreien! Auch wir Alten haben ein Recht zu leben, meinst Du nicht auch? Was schleppen wir nicht alles an altem Gerümpel mit uns herum, was uns die Luft zum Atmen nimmt! Wäre es nicht schön, noch einmal neu zu beginnen, Ann?!«
Sie schwieg lange, bis sich ihre Stimme wieder meldete: »Ich bin müde. Ob ich dazu die Kraft . . . Ich verstehe das alles nicht. Ich glaube, ich muss mich ein wenig ausruhen.«
Kaum hatte sich Albert gefasst, stand Christie vor der Tür. Die Nacht war quälend verlaufen, er hatte keine Ruhe gefunden, hatte sich unruhig im Schlaf hin- und hergewälzt, geträumt, er könne keinen Schlaf finden. Der Schlaf mit dem falschen Traum war bedrückender noch als das ewige Wälzen ohne Schlaf. Ungereimtes Zeug war ihm in den Kopf gekommen, böse Fratzen waren ihm erschienen, Gelächter immer wieder und dann dieses Trommeln, ein andauerndes Trommeln, das in seinen Ohren schmerzte. Als er aufgewacht war, hatte er immer noch das Geräusch im Ohr. Das Trommeln, das dann endlich sein Ende gefunden hatte.
Er frühstückte, trank Kaffee und aß Zwieback mit Honig, als Irma Christie hereinließ. Gefolgt von Lori betrat sie die Küche. Albert war im höchsten Maße verwirrt: Wie konnte er Christie vergessen? Hinter ihr erschien ihm Glorie nicht Lori: War das eine Versuchung? Sollte er
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