Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Reise zu Lena

Reise zu Lena

Titel: Reise zu Lena Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alfred Neven DuMont
Vom Netzwerk:
über die Wiesen bis in den Wald hinein, stand staunend vor einem Ameisenhaufen, bald so hoch wie er selbst, eine Größe, wie er sie nie gesehen hatte. Seine Schritte wurden kurz und kürzer, er wollte aber nicht aufgeben. Auf dem Weg zurück blieb er immer wieder stehen, atmete tief durch, hing an Christies Arm. Abends krachte und flammte ein Feuer im Kamin, die drei sahen die Flammen auf- und niederlodern, nur selten fiel ein Wort. Albert, ermüdet von dem schönen, aufregenden Tag und mit zittrigen Händen, bat, frühzeitig zu Bett gehen zu dürfen. Lena öffnete, ohne weiter zu fragen, seine Hemdknöpfe, kniete vor ihm nieder, um ihm die Schuhbänder zu lösen. Er war gerührt, konnte es ihr nicht abschlagen. Im Halbdunkel lag er im Bett, schaute auf die nahe Wand an seinem Fußende, an der eine großflächige Kinderzeichnung hing. Ein Meisterwerk, dachte er noch beim Einschlafen.

II.
    Albert rieb sich verwundert die Augen: Wie konnte er, in einem fremden Bett und fernab von zu Hause, nach einem langen wohligen Schlaf, ohne ihn verfolgende Träume, so glücklich sich wiederfinden! Seine lang gehegten Ängste, ob er woanders als in seiner eingelebten Höhle sich zurechtfinden könnte, ihn die Verzweiflung ereilen würde, waren über Nacht verstoben ins Nichts. Nachdenklich war er durch den Garten gestrichen, hatte die Pflanzen, die Blumen in Augenschein genommen. Zu den Bäumen hinaufgeschaut. Er saß neben Lena, seine Beine auf einem Polster verschränkt, die Hände gefaltet, während Christie selbst einen Hocker zu ihnen beiden heranzog. Schon am Vorabend hatte sie angekündigt, dass sie aus ihren Notizen – so nannte sie ihre Aufzeichnungen – vorlesen würde. Sie müsse die Mutter und ihn, Albert, um Nachsicht und Geduld bitten. Ihre Stimme war jetzt belegt, sie klang fremd. Offensichtlich zwang sie sich zur Ruhe:
    »Mutter will, dass ich meine Geschichte aufschreibe, sie meint, ich solle mir über mein Leben klar werden. Ich habe lange nicht auf sie gehört, wollte davon nichts wissen. Aber ich hatte in den beiden letzten Jahren viel Zeit, unter dem nächtlichen Himmel von Afrika kamen die Gedanken wie von selbst: Wer bin ich? Wer sind meine Eltern? Was war mir Glorie, meine Schwester, die nicht meine Schwester war? Was bedeutet mir meine Mutter, die nicht meine Mutter ist? Was mein Vater, der nicht mein Vater war? Was ist mit Albert? Warum all die Lügen, die falschen Erwartungen, Hoffnungen, die durch meinen unbändigen Glauben zu meinem echten Leben werden sollten. Und wurden, bis mich die Fragwürdigkeit, die Zerbrechlichkeit meiner erdachten, gewollten Welt einholten. Mit Schmerz und Trauer.
    Was ist meine Wirklichkeit? Ist es die Mutter, die leibliche Mutter, die mich nicht gewollt, sondern weggegeben hat, oder die andere, also Du, Lena, die mich als Kind angenommen hat und mich liebt, wie nur eine Mutter lieben kann. Ist die Wirklichkeit die Realität des Lebens, oder das, was ich fühle und glaube? Aber was ist, wenn Du fühlst und glaubst, aber Dein Blut, das, was Du ererbt hast, etwas anderes will? Wie lebt es sich mit einem solchen Zwiespalt, mit solch einer Schande?
    Ich weiß, ich bin mein Leben lang vor mir davongelaufen, ich wollte immer eine andere sein. Ich bin in die Irre geführt worden, habe mich verführen lassen. Durch Glorie, meine Schwester, meine Zwillingsschwester, meine Blutsschwester, meine Überschwester! Schlimmer noch: Ich selbst wollte Glorie sein, die zweite, ja, die erste Glorie, ich überholte sie. Ich wollte eins mit ihr sein, ich war verliebt in sie mit jeder Faser meines Körpers, mit jedem Haar, das ihrem so sehr glich. Ich wollte so schön sein wie sie, und noch viel schöner. Und ich wollte geliebt werden wie sie, sie übertrumpfen, wo es nur ging. Auch von Albert. Albert war unser erster Geliebter, um dessen Zuneigung wir stritten, ich mit doppelter Kraft. Was war das für ein Sieg für mich, als ich zum ersten Mal vor Glories Augen von Albert einen Gute-Nacht-Kuss bekam! Welch ein Triumph! Ich schlief beseelt ein, für immer gerettet. Jetzt ist es an der Zeit, Albert zu sagen: Ich habe mich verstellt, ich habe Euch belogen, um Glories Schwester, Deine Tochter, zu sein. Aber ich bin eine andere.«
    Christie hatte ihre Blätter dicht vor die Augen genommen, so, als ob sie sich hinter dem Papier verstecken wollte. Ihre Rede, zu Beginn zögerlich, mit Unterbrechungen, floss eilig dahin, als Albert sie unterbrach:
    »Ich will so etwas nicht hören!«
    »Es ist aber

Weitere Kostenlose Bücher