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Reise zu Lena

Reise zu Lena

Titel: Reise zu Lena Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alfred Neven DuMont
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mir gegenüber blieb. Doch als ich größer wurde, waren meine Zweifel schließlich verflogen.
    Unser Leben verlief ohne große Aufregungen, eher still und eintönig. Vater, ein strenger, gläubiger Christ, betete vor jeder Mahlzeit laut, mit seiner gewaltigen Stimme, aus der wir gelegentlich einen Vorwurf gegen uns beide heraushörten. Niemals versäumte er am Sonntag den Gottesdienst und obwohl er alles andere als ein geselliger Mensch war, wuchs sein Ansehen in unserer Gemeinde von Jahr zu Jahr. Ich glaube, es lag an seinem schönen Tenor, der sich im Kirchenchor unter all den anderen Stimmen so wohlklingend hervorhob. Eine stattliche Erscheinung war er zweifellos, stets mit dunklen, korrekten Anzügen und schwarzer Krawatte. Er liebte es zu trauern. Wenn er es mit seinem Beruf in Einklang bringen konnte, eilte er, so erinnere ich es, von Begräbnis zu Begräbnis, auch zu Verstorbenen, die er nur flüchtig gekannt hatte. Er sprang vor allem bereitwillig dort ein, wo er wusste, dass nur wenige Trauernde dem Sarg folgen würden. Durch seine imponierende Erscheinung, hinter der man leicht einen Bürgermeister, einen höheren Geistlichen oder einen Schuldirektor vermuten konnte, war eine Beerdigung mit Vater in jedem Fall ein Gewinn, da dem Geschehen Würde und Bedeutung zuteil wurde. Vater jedoch war keineswegs Schuldirektor, sondern einfacher Gymnasiallehrer. Er strebte nicht nach Höherem, lehnte jede Beförderung kategorisch ab, weil so etwas nicht mit seinem tiefen Glauben in Einklang zu bringen war. Er unterrichtete Deutsch und Geschichte, war bei Kollegen und Schülern geachtet und gefürchtet. So dachte ich damals. Ich fiel aus allen Wolken, als ich später erfuhr, dass kein Lehrer von seinen Schülern mehr gehänselt und mit bösem Spott verfolgt wurde als der eigene Vater, ein Umstand, der mich, als ich älter wurde, mit Schmerz und Mitleid erfüllte.
    In unserer kleinen Familie wurde über Gefühle nicht gesprochen, es war geradezu ein Tabu, freundliche, liebenswürdige Worte für den anderen zu finden. Man hätte sich so leicht dem Vorwurf der Geschwätzigkeit, der Schmeichelei aussetzen können, also etwas Unwahres, Eitles zu sagen, das leicht in Sünde übergehen konnte.
    Vater sah ich zeitlebens nur in seinem dunklen Anzug. Selbst zu Hause streifte er nur im Hochsommer, wenn die Hitze zu sehr drückte, das Jackett gelegentlich ab. Einmal stieß ich durch eine Unvorsichtigkeit gegen seinen Brustkorb und seine Arme; erschrocken wich ich zurück. Als hätte ich ein Skelett berührt. Er muss nur aus Haut und Knochen bestanden haben. In der Sekunde des unfreiwilligen Zusammenstoßes, nach meinem jähen Zurückweichen, traf mich sein feindlicher Blick. Ich war zwölf Jahre alt, aber die Art, wie wir miteinander umgingen, glich mehr und mehr der von Fremden.
    Wir gingen nie wie andere Familien im Sommer zum Schwimmen, weder zu Hause ins Schwimmbad, noch in den Ferien, die wir meistens, wenige Tage nur, im hohen Norden verbrachten, zu einem Badesee. Der Gedanke an eine solche unbeschwerte, leichtsinnige Ablenkung in der Natur wurde nie in Erwägung gezogen. Ich wagte auch nicht, um Erlaubnis zu bitten, mit einer Freundin einen entsprechenden Ausflug zu unternehmen. So entstand ein Vaterbild, das zwar Hände und Gesicht hatte, aber nicht nachprüfbar aus Haut und Fleisch bestand. Zu Mutter hörte ich ihn sagen, dass die Sünde aus dem Fleischlichen komme und dass man den Körper mit dem Geist besiegen müsse. Dies sei Gottes Auftrag. Gedanken, die ich als Kind genauso wenig verstand, wie seine wiederholte Feststellung, von der Frau gehe die Sünde aus und sie müsse sich vor Schamlosigkeit hüten. Eva galt uns als warnendes Beispiel, sie musste ein schlimmes Weibsstück gewesen sein. Auch meine Mutter bekam ich niemals unbekleidet zu sehen, ja, nicht einmal im Badeanzug. Ihre Röcke fielen weit über die Knie, und auch sie bevorzugte mehr und mehr Kleider in dunklen Farben. Mutter achtete mit Sorgfalt darauf, dass ich in der Wohnung und natürlich erst recht außerhalb auch in der größten sommerlichen Hitze stets vollständig bekleidet war. Bei Todesfällen und war es in der fernsten Verwandtschaft, bei Personen, die ich selbst nie zu Gesicht bekommen hatte, wurde ich in schwarze Kleider gesteckt, sehr zum Spott meiner Klassenkameradinnen, die sich über unsere Familie, die ewige Trauergemeinde, lustig machten.
    Umso einschneidender sind mir zwei Erlebnisse in Erinnerung, die sich in meinen ersten Schuljahren

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