Reise zu Lena
knorrigen, von Harz triefenden Baumstamm aufzuhängen.
Sie entdeckten einen weiteren Ameisenhaufen, einen größeren noch als den vom Vortag. Albert war fasziniert: Wohin sind sie unterwegs, hin und her, hinauf und hinunter, ein Gerenne ohne Ende. In wessen Auftrag waren die kleinen flinken Tierchen mit den munteren Beinen unterwegs? Tausende, Abertausende, ihre schmalen Pfade kreuzten sich, verliefen sich in der Weite des Waldes. Und dann hinauf auf den fein hochgeschichteten Haufen, Millionen von winzigen Tannennadeln übereinander geschichtet, wie von Geisterhand von dem riesigen Sklavenheer. Immer mehr Nadeln trugen sie herbei, wohin damit? Immer höher, immer mächtiger? Er, der allgewaltige Mensch, konnte diesem ungeheuren Vorhaben mit einem Schlag ein böses Ende bereiten! Mit einem großen Stock dazwischenfahren, das Millionendorf von oben bis unten aufschlitzen, die tausendfachen Zellen aufbrechen, zerstören, zertrampeln. Keiner würde ihn zur Rechenschaft ziehen, er würde vor keinen Richter gezerrt werden. Er, ein vielfacher Mörder, ja Massenmörder, könnte sich hier an diesem unschuldigen Ameisenvolk für das Ungemach, das Ärgernis, das Leid, das ihm zugefügt wurde, mit einem Handstreich rächen, ja, Rache üben, sich befreien.
Ihn schauerte. Eine Schneise führte abwärts, hinunter zu einer Lichtung, zur Rechten ein Hochstand. Sollte er hinaufklettern, nach dem Wild Ausschau halten? Sie stiegen über ein Wasser, das sich gurgelnd tiefer ins Erdreich eingegraben hatte. Über eine Böschung gelangten die drei, immer noch in der alten Formation, in ein schmales, nach unten abfallendes Tal. Albert blieb stehen, seine Beine schwankten, er trippelte zu einem nahen Baumstamm, den ein Sturm niedergedrückt hatte, und ließ sich dort nieder, die beiden Frauen an seiner Seite:
»Hier bleibe ich, bis es dunkel wird! Ich lege mich dort drüben ins Moos, wo die Sonne flimmert. Morgen früh könnt ihr mich abholen, wenn ihr wollt. Wenn ihr mich vergesst, auch gut. Dann vergesse ich mich selbst und hab meine Ruhe.«
Lena lachte:
»Er hat recht. Wir haben ihn viel zu tief in den Wald verschleppt, Christie.«
»Es ist doch nur wegen der Gespenster, Mutter.«
Der Weg zurück war lang, Albert war erschöpft, seine Schritte wurden kurz und kürzer. Immer wieder musste ein Halt eingelegt werden, jede Bank, die sich an Kreuzwegen bot, war willkommen. Es war bereits dunkel, als sie den Riesenameisenhaufen passierten, er gestützt auf Christie, dann von Lena, die sich hoch aufrichten musste, um ihm nahe zu sein. Am Waldrand nahmen sie eine Abkürzung hinunter zur Landstraße, hielten ein vorbeifahrendes Auto an und baten um eine kurze Mitfahrt. Im Haus legten ihn die Frauen in die heiße Badewanne, damit er wieder zu Kräften kam. Albert ließ alles mit sich geschehen, auch dass Lena ihm half, seine Kleider abzustreifen. Er dachte: Sie ist meine Amme. Sie sagten kein Wort. Er verfiel in seiner Kammer eine Stunde in Tiefschlaf, erwachte danach wie neugeboren. Zu später Stunde nahmen sie ein leichtes Abendessen zu sich, Albert trank gierig den ersten Schluck des dunklen Weines. Kurz darauf, nachdem wieder ein Schweigen erfolgt war, wandte er sich Christie zu, sah sie an:
»Und jetzt erzähl Deine Geschichte, ich habe Dir Unrecht getan, vorher, als ich Dich unterbrochen habe, erzähl, von Anfang an, erzähl, wie es war. Bitte . . .«
»Also gut, Ihr beide habt ein Anrecht darauf, auch ich habe ein Anrecht darauf, mein Leben klar zu sehen.«
Christie hatte den Stapel mit ihren Blättern wieder vor sich gelegt und begann zu lesen:
»Das Erste, an das ich mich erinnern kann, ist ein Bart, ein schwarzer, gewaltiger, Angst einflößender Bart, der dem Mann gehörte, vom dem ich damals glaubte, dass er mein Vater sei. Aber sein Gesicht, wenn er sich über mich beugte, flößte mir nicht nur ungeheuren Respekt ein, sondern da war noch etwas anderes: Es versteckte sich in seinen Augen, genau gesagt, hinter seinen Augen, eine gelegentlich aufflammende Liebe. Mutter Lena war immer um mich, ihre Hände, ihr Atem, ihr Körper, ich erinnere mich ganz deutlich. Sie war im Gegensatz zu meinem Vater immer da. Blickte ich ihr ins Gesicht, schlug sie nicht selten die Augen nieder, wie aus Scham, wie von einem schlechten Gewissen geplagt, dessen Ursprung ich nicht verstehen konnte. Manchmal fürchtete ich, dass sie etwas vor mir zu verbergen suchte, dass es ein Geheimnis zu hüten gab. Vieles verschwand mit den Jahren, eine Scheu
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