Reise zu Lena
keinerlei Spuren davon, keine geröteten, verquollenen Augen. Später sagte sie, mehr zu sich selbst, als an mich gerichtet: >Ich habe an seiner Seite soviel geweint, dass mir am Ende keine Träne übrig blieb.< Vater fehlte mir so wenig, als wenn er gar nicht weggegangen wäre, worüber ich mir bald Gedanken machte und mich mit Vorwürfen über meine Gleichgültigkeit und Kaltherzigkeit überschüttete. In Wahrheit war ich so sehr mit meiner Liebe zu Glorie beschäftigt, dass wenig Raum für andere Gefühle übrig blieb.
Großartig verlief die Totenmesse in unserer würdigen Gemeindekirche. Der versammelte Chor war angetreten, verstärkt durch Vertreter benachbarter Kirchenchöre. Die Predigt unseres Pfarrers verriet echte Anteilnahme, aber Höhepunkt der Stunde blieben die ohrenbetörenden Choräle der barocken Meister. Hier dankte eine Gemeinde aus vollem Herzen. Wo Worte versagten, war die Kraft der Musik in der Lage, die Enge, die Grenzen des Einzelnen zu sprengen. Auch die anschließende Beerdigung war überwältigend, die Menge, die sich aus der Kirche in Richtung des Friedhofs ergoss, schwemmte uns mit sich fort. Am offenen Grab gab es unendlich viele Hände zu schütteln, die Kollegen aus der Schule, wieder Mitglieder des Kirchenchors und hin und wieder eine flüchtige Erscheinung, die sich aus der weiteren Verwandtschaft vorstellte. All das stand in einem verwirrenden Gegensatz zu dem zurückgezogenen Familienleben, das wir mit Vater geführt hatten. Mutter und ich blieben Fremde unter Fremden bei dem Geschehen. Ein merkwürdiger Friede zog nach dem Tod Vaters in unsere Wohnung ein, die sich zu dehnen und zu strecken schien. Zu meinem Erstaunen wies mich Mutter mit einer bisher unbekannten Deutlichkeit bereits nach drei Tagen an, die Trauerkleidung abzulegen, um mich, wie sie meinte, ganz meinem jungen Leben zu widmen. Ein feines Lächeln umspielte dabei ihre Lippen. Unsere Tage wurden lichter, zu Beginn fast unmerklich, später immer deutlicher. Sogar unsere Wohnung wurde heller. Sie kaufte neue, bunte Vorhänge, die mehr Sonne herein ließen. Mutter, die neben Vaters Pension auch über weitere überraschende Rücklagen verfügte, schaffte neue Sitzgarnituren und für uns beide neue Betten an, eine moderne Küchenausstattung. Als wir die alten, ausrangierten Möbel auf dem Hof stehen sahen, schämten wir uns, so verbraucht und hässlich sahen sie aus. In den Läden, die wir aufsuchten, war ihr meine Meinung wichtig. Oft überließ sie mir sogar die Entscheidung. Aber es ging noch weiter: Sie verlangte von mir, dass wir uns beide in einem teuren Kaufhaus neu einkleiden ließen, wobei immer ich, so drängte sie, die Hauptperson sein sollte. Ich sollte vor meinen Freundinnen und den Jungs in der Schule einen hübschen, ja, wie sie sagte, reizvollen Eindruck abgeben. Ich musste mich in einer Umkleidekabine mit vielen Spiegeln in einem engen Bikini und Unterwäsche vor ihren und den kritischen Augen der uns beratenden Verkäuferin zeigen. Verwirrt und überglücklich kam ich zu Hause an, bereits in einem neuen Outfit, das meine Figur ungewohnt betonte. Zum ersten Mal sah man meine Brüste, die sonst in übergroßen Pullovern versteckt waren. Mutters Gesicht schien mit jedem Tag weniger Falten zu haben, um ihre Augen stellte sich ein neuer Glanz ein. Sie sprach zwar immer noch nur das Wenigste, aber wir verstanden uns auch fast wortlos bestens. Mein Taschengeld wurde aufgestockt, bei meinem nächsten Geburtstag, dem vierzehnten, geradezu verdoppelt. >Du bist jetzt eine junge Dame<, sagte sie und fragte mich, wie mein >wichtiger Geburtstag< zu feiern sei. Eine Party kam für mich, störrisch wie nur ich sein konnte, nicht in Frage. So kamen wir endlich nach endlosen Debatten zu dem gemeinsamen Entschluss, eine kleine Runde zu uns in die Wohnung einzuladen, drei Schulfreundinnen, darunter natürlich Glorie, und zwei Mitschüler, die meine Aufmerksamkeit gefunden hatten, bildeten die Kerntruppe des Festtags. Als alle Gäste sich bei Tisch erhoben, um mit einem Glas auf mich anzustoßen, traten mir die Tränen vor Rührung in die Augen. Ich war glücklich. Ich wusste nicht, dass man so glücklich sein kann. Und Glorie war an meiner Seite.
Als wir in die nächste Klasse versetzt wurden, saßen Glorie und ich nebeneinander. Endlich. Während des Unterrichts tauschten wir kleine Zettelchen aus, meistens, um unseren Spott über einen Lehrer oder einen Jungen loszuwerden oder, gelegentlich, wenn wir zu der vorgegebenen
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